Wie ein Flügelschlag
mich
ab. In meinen Augen brannten Tränen. Vielleicht hätte ich zurücklaufen
und sie umarmen sollen, vielleicht wäre es ein Anfang
gewesen. Aber ich konnte nicht. Es gab bereits zu viele
hätte
und
wäre
zwischen uns.
Ich nahm immer zwei Stufen auf einmal und rannte die vier
Stockwerke nach unten. Wenn ich mich beeilte und den nächsten
Bus erwischte, konnte ich vielleicht vor dem Abendessen
noch eine Stunde schwimmen.
Als ich ins Becken glitt, war Tom bereits da.
»Hi, Jana, alles klar?«
»Geht so, und bei dir?« Er reckte den Daumen aus dem Wasser,
schwamm eine Wende und setzte sein Training fort.
Das mochte ich an Tom. Überflüssige Worte waren nicht sein
Ding. Ich überlegte kurz, ob ich ihn auf den Streit mit Jonas ansprechen
sollte, verwarf den Gedanken dann aber wieder. Statt
zu reden, wollte ich lieber schwimmen. Ich sprang ins Wasser
und fing an zu kraulen.
Eine Stunde später stiegen wir beide erschöpft und hungrig
aus dem Becken.
»Sehen wir uns in der Mensa?«
Tom nickte. Wir trennten uns vor den Duschen und ich freute
mich auf ein Abendessen zu zweit.
Nach dem Samstagsfrühstück wurde die Mensa für gewöhnlich
geschlossen. Erst am Sonntagabend, wenn die ersten Schüler
wieder eingetrudelt waren, gab es Abendessen. Wer das Wochenende
im Internat verbrachte, konnte eine kleine Tee küche
mit Mikrowelle benutzen. Eine Ausnahme waren die Wettkampfwochenenden
oder die Sommerturniere der Handballer,
zu denen manchmal auswärtige Mannschaften eingeladen wurden,
die dann ihr komplettes Wochenende hier verbrachten.
Diesmal waren Tom und ich fast allein in dem großen Speisesaal.
Nur ein paar Jungs saßen an einem runden Tisch, ihr Gelächter
drang zu uns herüber.
Noch zwei Tage bis zur Sichtung. Und ich hatte immer noch
nicht mit Mel gesprochen. Nachdenklich stocherte ich in dem
Schälchen mit Salat.
»Du stehst wohl nicht so auf das Grünzeug?«, meinte Tom
schließlich.
»Doch. Wieso?« Irritiert sah ich ihn an.
»Na ja, du hast jetzt seit einer Viertelstunde bestimmt jedes
Salatblatt einzeln gewendet.« Er schwieg, dann rückte er ein
Stück näher. »Irgendwas stimmt nicht mit dir in letzter Zeit. Na
los, spuck's schon aus. Es hat mit Melanie zu tun, richtig?«
Ich schwieg. Ich konnte nicht mit ihm darüber sprechen. Tom
war ein netter Kerl, und ich war mir auch sicher, dass er ein Geheimnis
bewahren konnte. Nur, was würde das nützen? Helfen
konnte er mir nicht.
»Sorry, ich wollte dich nicht bedrängen«, sagte Tom.
Ich schüttelte den Kopf. »Ist schon gut. Es ist nur, ich kann
einfach nicht darüber reden. Noch nicht«, fügte ich hinzu, als
ich sah, dass er etwas erwidern wollte.
Jetzt war er es, der in seinem Salat herumstocherte.
»Melanie hat offensichtlich zurzeit ganz schön viel Stress«,
fing er noch einmal an. »Für sie steht wohl einiges auf dem Spiel
nächste Woche.«
Für mich auch!, dachte ich, aber ich hielt die Klappe. Zum
ersten Mal kam mir der Gedanke, dass Tom für Mel vielleicht
mehr empfinden könnte als nur Freundschaft. Ob er auch von
den Medikamenten wusste?
Ich warf einen Seitenblick zu den Jungs am Nachbartisch,
aber keiner von ihnen schien sich für uns zu interessieren. »Ich
habe Mels Bruder getroffen«, sagte ich leise. »Er hat mir erzählt,
dass ihr Vater von fast nichts anderem mehr redet als von
der Sichtung. Ich glaube, ihm wäre fast jedes Mittel recht, wenn
sie nur gewinnt.«
Gespannt wartete ich auf eine Reaktion. Aber Tom zuckte nur
mit den Schultern.
»Ich bin echt froh, dass es meinen Alten egal ist, ob ich bei
den Wettkämpfen gut oder schlecht abschneide. Sie bezahlen
mir das Internat, weil ich gern schwimme.« Er spießte ein Stück
Tomate mit der Gabel auf. »Und weil ich ihnen so nicht im Weg
stehe bei ihren ewigen Streitereien.«
Okay. Entweder hatte er von dem ganzen Medikamentenzeug
wirklich keine Ahnung oder er war ein verdammt guter Schauspieler.
»Ich dachte, deine Eltern leben getrennt?«
Er nickte. »Das tun sie auch. Meistens jedenfalls. Alle paar
Monate kommt einer von ihnen auf die Idee, es doch noch mal
zu probieren. Das geht meistens keine vierundzwanzig Stunden
gut.« Er grinste mich an. »Ich sag's ja, ich bin froh, hier sein zu
können und nicht dauernd zwischen ihnen zu stehen.«
Den Rest der Mahlzeit beendeten wir schweigend. Ich stapelte
mein Geschirr auf das Tablett und stand auf, um es zurückzubringen.
»Ich geh dann mal. Muss noch was lernen.«
Das war eine glatte Lüge, aber ich musste einfach
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