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Wie ein Flügelschlag

Wie ein Flügelschlag

Titel: Wie ein Flügelschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Wilke
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ließ
mich aufstehen und herumlaufen. Es kostete mich ungeheure
Kraft, sie nicht mit den Fäusten an den Holzwänden der Bushaltestelle
auszulassen. Stattdessen ging ich zu der schmalen Bank,
schob die Handflächen unter meine Oberschenkel und setzte
mich darauf. Zum einen, um sie vorm Erfrieren zu schützen,
aber auch, um meine Wut zu bändigen.
    Und so fand mich Drexler.
    »Jana? Jana Schwarzer? Verdammt noch mal, kannst du mir
bitte mal erklären, was du da machst?«
    Ich starrte ihn an. Keine Ahnung, was ihn dazu veranlasst
hatte, überhaupt einen Blick in das Wartehäuschen zu werfen.
Seine Stimme drang nur gedämpft durch die Musik zu mir durch.
    »Komm da raus, Schwarzer! Und nimm endlich diese Scheißstöpsel
aus den Ohren! Was fällt dir eigentlich ein? Warum warst
du nicht beim Morgentraining? Was glaubst du, wer du bist? Bildest
dir wohl immer noch ein, etwas ganz Besonderes zu sein,
was?«
    Die anderen hatten inzwischen einen Halbkreis um Drexler
und mich gebildet. Nora grinste blöd vor sich hin, Tom musterte
mich besorgt. Genauso wie alle anderen hielt er die Klappe.
    Drexler redete noch eine Menge Zeug. Sprach von Verantwortung
und Vorbildfunktion und davon, dass ich meine Spielchen
mit anderen spielen sollte, aber nicht mit ihm. Ich ließ ihn
toben und wartete ab. Und dann schickte er mich auf die Bahn.
    »Zehntausend Meter. Und keinen einzigen Meter weniger,
ist das klar?«
    Natürlich hätte ich ihn einfach stehen lassen können. Ich hätte
ihm den Mittelfinger zeigen und einfach weggehen sollen. Sogar
ein paar passende Schimpfworte hätten mir auf der Zunge gelegen.
Stattdessen stöpselte ich wieder meine Kopfhörer in die
Ohren, stellte Rihanna zwei Stufen lauter, drehte mich um und
ging zur Bahn.
    Eine Viertelstunde später wusste ich, dass ich das alles hätte
tun können und noch viel mehr und dass es vollkommen egal
gewesen wäre. Denn eine Viertelstunde später fanden sie Melanie.

Als ich wach werde, weiß ich nicht gleich, wo ich bin. Nur langsam
tauche ich aus meinem Traum auf, der vom Fliegen handelte
und von einem Engel mit zerbrochenen Flügeln. Mit geschlossenen
Augen versuche ich, die Bilder in meinem Kopf zu sortieren,
versuche, mich zurechtzufinden und in den Erinnerungen
die Wahrheit zu erkennen. Und dann trifft sie mich mit einem
Schlag, der mich einfach nur fallen lässt. Ich falle und falle und
da, wo der Aufprall meinem Sturz ein Ende setzen müsste, tut
sich der Boden unter mir auf und ich falle weiter. Und die Wahrheit
fällt unbarmherzig mit mir, hält mich fest umklammert und
denkt nicht daran, mich loszulassen. Melanie ist tot.
    Ich reiße die Augen auf und schreie. Mein T-Shirt und meine
Bettdecke sind schweißnass. Trotzdem fangen meine Zähne an
zu klappern und meine Arme und Beine zittern wie Espenlaub.
Ich friere unter der klammen Decke. Der Eisklotz in mir ist wieder
da und er wächst und wächst und wird mich einfach von
innen erstarren lassen.
    »Schatz, bist du wach?«
    Ich habe keine Ahnung, wer da spricht. Die Stimme gehört
nicht in meine Welt.
    Eine Hand streicht mir über die Stirn. Eine kalte Hand.
    »Du glühst ja! Warte, ich hole dir einen kühlen Lappen.«
    Einen kühlen Lappen? Ich werde gleich in tausend winzige
Eissplitter zerspringen. Was soll ich mit einem kühlen Lappen?
Ich bemühe mich krampfhaft, die Augen aufzuhalten, öffne den
Mund, will etwas sagen, aber Eiskristalle füllen ihn aus und ich
bringe nichts hervor außer einem Stöhnen. Dann versinke ich
wieder in meinem Traum …

    Als ich zum zweiten Mal wach werde, ist es immer noch kalt,
aber das Zittern hat aufgehört. Ich versuche, die Augen zu öffnen,
und diesmal schaffe ich es. Ich weiß nicht, wo ich bin, kann
nicht unterscheiden, was Traum ist und was Realität, aber ich
begreife, dass ich in einem Bett liege und über mir die Zimmerdecke
ist; nicht weiß wie Schnee, sondern eher gelb wie Vanille.
Ich drehe den Kopf und sehe einen Tisch an der Wand und darüber
ein Bild von einem, der schwimmt. Ich öffne den Mund, will
etwas sagen, aber heraus kommt nur ein Krächzen. Mein Hals ist
eine einzige offene Wunde, zu viele Eissplitter haben ihn aufgerissen.
Ich hole Luft, doch da ist kein Ton mehr, nur noch Stille.
Mein Kopf fühlt sich an, als läge er in einem Ring aus Eisen. Ich
kann ihn kaum drehen, jede Bewegung ist unendlich schwer. Ich
versuche, ihn anzuheben, schaffe es jedoch nicht. Ich habe keine
Ahnung, was passiert ist, aber es muss etwas Schreckliches sein,
denn ich fühle

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