Wie ein Haus aus Karten
Beethoven-Interpretin, die ihrem Lieblingskomponisten im Alter immer ähnlicher wird. Dass mein Interesse sich schon bald vor allem auf Geigenvirtuosen konzentriert wie David Oistrach, Yehudi Menuhin und Wolfgang Schneiderhan, entspringt allerdings nicht nur meiner Liebe zur Musik, sondern auch der zu unserem neuen Familienmitglied.
Wolfram Königs erste öffentliche Auftritte, Duo-Abende mit Violine und Klavier, sind ein Familienereignis, bringen aber trotz ausverkaufter Häuser nicht den erhofften Durchbruch. Einen Großteil der Karten hat Annemi vorab gekauft und in den Städten, wo die Konzerte stattfinden, an die Angestellten der dortigen Neckermann-Filialen verschenkt. Da die mit Eintrittskarten bedachten Firmenmitarbeiter wissen, dass die Chefin bei den Konzerten anwesend ist, stellen sich alle ein. Vielleicht ist der wohlwollende, anhaltende Applaus am Ende der musikalischen Darbietung Ausdruck echter Begeisterung, denn Wolfram macht seine Sache gut, vielleicht ist der Beifall aber auch eine Hommage an ihre Chefin, Frau Neckermann.
Für meinen Stiefbruder Johannes und mich sind die Auftritte unseres familieneigenen Künstlers Höhepunkte dieser Jahre, besonders für Johannes, der, neben dem Klavierbegleiter auf dem Podium sitzend, die Noten umblättern darf. Und ich? Ich träume davon, dereinst als Frau des Virtuosen elegant und schön in den großen Konzerthäusern der Welt in der ersten Reihe zu sitzen. Dass Wolfram die ersten Konzerthäuser der Welt bis auf wenige Ausnahmen trotz seiner Begabung verschlossen bleiben, hat Annemi doch etwas betrübt, und die Auftritte bei Familienfesten sind kein Ersatz, weder für sie noch für ihn.
Wolfram König wird meine erste und vor allem unglückliche Liebe, unglücklich nicht nur, weil sie kein Happy End hat, sondern weil ich dem mir bis dahin unbekannten Gefühlswirrwarr ahnungslos, hilflos und kopflos ausgeliefert bin. Wenn ich an die ersten Lieben meiner Söhne denke, so sind diese vielleicht nicht weniger intensiv, aber doch gepaart mit einem gesunden Gespür für die Realität verlaufen. Ich habe es damals verloren. Als ich meiner ersten Liebe mit vierzehn Jahren begegne, ist mein emotionaler Hintergrund denkbar ungünstig, da er bereits durch Verlust und Verunsicherung gekennzeichnet ist. Doch seiner ersten Liebe entgeht man nicht.
Wolfram ist für mich der schönste Mann, den ich bis dahin gesehen habe. Im Verhältnis zu seinem Körper ist der kantige Kopf zu groß. Die Stirn und die weit vorspringende, spitz zulaufende Nase mit markanter griechischer Krümmung sind wie aus Holz geschnitzt, doch die dunklen Locken, die ihm beim Geigespielen in die Stirn fallen, verleihen dem Gesicht etwas Weiches. Was ich nicht sehe: Wolfram ist mit seinen sechzehn Jahren selbst noch ein Junge und ebenso hilflos wie ich.
Wir nähern uns vorsichtig. Beide sind wir unerfahren, und Wolfram ist überdies verunsichert, was seine Position in der neuen Familie betrifft. Allein der Großzügigkeit meiner Pflegemutter, die er schon bald Annemi nennen darf, hat er es zu verdanken, dass er in Frankfurt an der Musikhochschule Geigenunterricht nehmen und in der Neckermann-Familie leben kann. Wolfram weiß, dass er sich durch Fleiß und Wohlverhalten dieser Großzügigkeit würdig erweisen muss. Er ist noch einer in der Schar der Dankbaren.
Wir beide, Wolfram und ich, die wir von uns vertrauten Sternen, er von seiner in Kassel lebenden Familie, ich von dem Behütetsein bei meiner Großmutter, plötzlich und nur zum Teil freiwillig in einer fremden Umwelt gelandet sind, fühlen uns zueinander hingezogen. Meine Liebe zur Musik bekommt durch ihn eine neue Dimension. Diese Liebe können wir ungehindert miteinander teilen. Wenn er in seinem Zimmer übt, um sich auf die Meisterklasse bei dem Geigenvirtuosen Wolfgang Schneiderhan vorzubereiten, sitze ich still daneben und höre zu. Als ich kurze Zeit später eine Woche im Bett liegen muss, weil eine Operation am Zeh meinen Ballettambitionen ein unerwartetes und trauriges Ende setzt, bringt mich Wolfram, um mich abzulenken, auf die Idee, das D-Dur-Violinkonzert von Beethoven, das ich inzwischen auswendig kann, zu dirigieren. Mit verbundenem Fuß und ausgestreckten, im Takt schwingenden Armen sitze ich aufrecht im Bett und komme mir vor, als flöge ich über ein imaginäres Orchester hinweg.
Wolframs Ideenreichtum beschränkt sich nicht auf die Musik. Plötzlich hat er ein Ratespiel entdeckt und meint: »Wenn du es nicht schaffst, will ich
Weitere Kostenlose Bücher