Wie ein Haus aus Karten
weiblichen Funktionen, stattgefunden. Dreizehnjährig und gerade mit meiner Großmutter in der Apotheke in Hofheim zu Besuch, fließt dunkles Blut zwischen meinen Beinen herunter. Ich sitze auf dem an der Hofseite der Apotheke befindlichen Plumpsklo, aus dem der Wind von unten heraufpfeift, und erstarre vor Kälte und Entsetzen. Es gibt keinen Zweifel, in diesem nicht einmal einen Quadratmeter kleinen Kabuff werde ich sterben. Der zweite Impuls ist schon positiver. Ich renne, die Unterhose in den Kniekehlen, eine Blutspur hinter mir herziehend davon und direkt in die Arme meiner Großmutter. Wir fallen uns um den Hals und weinen. Ich aus Angst, meine Großmutter aus schlechtem Gewissen, mich nicht rechtzeitig vorbereitet zu haben. Diese leibhaftige Erfahrung und die anschließende Belehrung meiner Großmutter über meine weiblichen Funktionen schließen eine Aufklärung über den Geschlechtsverkehr nicht mit ein.
Dazu kommt es auch nicht im Ankleidezimmer meiner Pflegemutter. Meine älteste Schwester Uschi beeilt sich zu versichern, dass wir alle Bescheid wüssten, was Annemi mit Blick auf mich erstaunt, im Ganzen aber erleichtert aufnimmt. Meine Aufklärung übernimmt wenig später detailliert und anschaulich der bundesweite Tabubrecher Oswald Kolle, der durch seine regelmäßigen Veröffentlichungen in der Zeitschrift »Quick« mich wie die gesamte Nation in die Geheimnisse der Liebe und der erogenen Zonen einführt.
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Ich habe eine Geschichte geschrieben. Da bin ich vierzehn Jahre alt. Ich gebe ihr den Titel »Bea und ihre Geschwister«. Es soll ein Geschenk für meine Pflegemutter werden. Mit zwei Fingern tippe ich den zunächst handgeschriebenen Text auf der Schreibmaschine ab und klebe selbstgemalte Bildchen hinein. Es sind Tuschezeichnungen von einem Haus zwischen Bäumen, einem Mädchen im Gras mit Blume im Mund, im Badeanzug und im Ballkleid. Es stellt die Protagonistin dar. Auf der Titelseite steht unter einem Phantasiewappen: »Eine Familiengeschichte von Tini, für die allerbeste, liebste Mutz der Welt mit einem ganz besonders lieben Kussi von Deiner so arg dankbaren Tini.« Einen Verlag gibt es auch. Er heißt »Verlag der Lang-Neckermann-Gesellschaft Frankfurt am Main«. Es fällt mir nicht leicht, den Text im Rahmen meiner Recherche noch einmal zu lesen. Den Inhalt der Geschichte hatte ich längst vergessen, die Folgen bis heute nicht.
Unfassbar für mich, noch immer, wie viel Kraft und Energie das Mädchen, das ich damals bin, in diese Geschichte gesteckt hat, vor allem aber, wie viel Hoffnung: die Hoffnung, dass wie in meiner Erzählung auch für mich am Ende alles gut wird. Die Beschreibung der Romanfamilie muss, wenn auch nur in Ausschnitten, wiedergegeben werden, weil sie ein Psychogramm der jugendlichen Autorin und ihrer Sehnsüchte ist, der das damals jedoch nicht bewusst wird. Der Vater, »Daddy genannt, ist sehr lieb und sehr gutmütig. Ganz besonders verwöhnt er uns Mädchen.« Ähnlich rührend wird die Mutti oder Ma beschrieben: »Sie ist die liebste Mutti von der ganzen Welt. Immer kommen wir mit unseren Nöten und Herzensangelegenheiten zu ihr.« Die Romangeschwister kommen kürzer, aber nicht unfreundlich weg. Die Beschreibung der in Ichform erzählenden Bea beginnt schamhaft mit dem Satz: »Über sich selbst kann man eigentlich am schlechtesten schreiben«, um es dann munter zu tun: »Also, ich bin sechzehn Jahre, ziemlich groß, schlank und ich glaube auch lieb.« Der Satz »und ich glaube auch lieb« ist mit Tinte unterstrichen.
Nicht ich habe das gemacht, denn die Striche verschandeln die mühevoll zusammengestellte Seite. Die Striche stammen von meiner Pflegemutter, die das Geschenk mit zunehmendem Unwillen liest. Bea kann natürlich auch Klavier spielen und Ballett tanzen. Der Schlusssatz der Selbstdarstellung lautet: »Leider nehme ich alles sehr tragisch, besonders die Herzensangelegenheiten.« Dennoch gelingt der Hauptperson Bea einfach alles, alle lieben sie, zwischendurch bemühen sich gleich zwei junge Männer um ihre Gunst, und ihre Mutter nennt sie liebevoll »Strolch«.
Auf Seite vierzig endet das ordentlich abgetippte Manuskript. Eine Fortsetzung folgt nicht. Schon auf den Seiten davor ist im Text Platz für Zeichnungen gelassen, die aber nicht mehr angefertigt werden. Die Geschichte, die mich viele Monate lang beschäftigt hat, wird nicht beendet.
Ich bin voller Stolz über mein Geschenk, als ich meiner Pflegemutter das flache, kunstvoll verschnürte Päckchen
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