Wie ein Haus aus Karten
Antoinette und ihr Fohlen Romana, Chagall, Duero, Venetia und wie sie alle heißen. Berichtet wird von ihren Krankheiten, vor allem aber von ihren Erfolgen, die sich zunächst auf alle reitenden Familienmitglieder verteilen, im Laufe der Jahre aber fast ausschließlich den Dressurreitkünsten ihres Mannes zu verdanken sind.
Politische Ereignisse und deren Einschätzung verwirren meine Pflegemutter. In einem Weihnachtsbrief aus dem Jahr 1974 spürt man ihre Ratlosigkeit, wenn sie im gleichen Atemzug schreibt, wie sehr sie ein »Winnetou«-Film aufgewühlt und schließlich zu Tränen gerührt habe, und im nächsten Satz verständnislos darauf reagiert, dass »man sich vor Vorwürfen umbringt, weil ein Holger Meins nicht essen will und stirbt, der vorher an Überfällen und Morden beteiligt war«. Sie beendet den kurzen Abstecher in die Politik mit den Worten: »Was für eine wirre Welt.« Von dieser wirren Welt möchte Annemi eigentlich nichts wissen. Sie konzentriert sich lieber auf ihre Familie und ihre Tiere.
Annemi informiert die im Laufe der Jahre immer größer werdende Schar der Weihnachtsbriefempfänger darüber, dass der Dackel Wastel einen Leberschaden hat und eingeschläfert werden muss und dass die Katze Morle auch kein Trost ist, dass Wastel im Garten neben ihrem Lieblingspudel Sascha begraben ist, den sie »meinen geliebten besten Freund und Kameraden« nennt und dem sie jeden Abend auf ihrem Spaziergang gute Nacht sagt.
Dann kommen die Kinder. Die Reihenfolge, die sie in den Weihnachtsbriefen einnehmen, kommt einer Rangordnung in Annemis Herzen gleich, und die wird wesentlich von der Neckermann’schen Werteskala bestimmt. Ich nehme Jahr für Jahr die Position des Schlusslichts ein und das nicht nur, weil ich die Jüngste bin. Mein Verhalten entspricht nicht der besagten Skala. Als ich mich in dieser Position schon häuslich eingerichtet habe, rücke ich auf den vorletzten Platz auf und überhole damit meine Schwester Juli. Verhaltene Schadenfreude und ein Quäntchen Stolz wollen schon bei mir aufkommen, da lese ich den Grund. Nicht ich, die bereits zweimal Geschiedene, kann mir dieses Verdienst zuschreiben. Was mich in den Augen meiner Pflegemutter aufwertet, ist mein dritter Mann, der, wie sie über ihn schreibt, »ein guter Arzt und ein besonders liebenswerter Mensch ist«. Ich teile damit das Schicksal meiner ältesten Schwester Uschi, deren Mann, sogar noch nach der Scheidung, in der Weihnachtsbriefrangfolge vor ihr platziert ist.
Beim Lesen der Rundbriefe bekommt man den Eindruck, dass es sich um eine Familie von »Winnern« handelt und dies über Generationen hinweg. Was zählt, sind Leistung und Erfolg. Annemis Enkelkind Susanne, damals fünfzehn, die Tochter meines Stiefbruders Peter, »hat viel Spaß am Schwimmen und bereits recht nette Wettbewerbserfolge. Bei 100 m Kraul hat sie sich immerhin auf 1.16 hinaufgearbeitet.« Christian, ihr Bruder, damals zwölf Jahre, reitet schon in der Seniorenklasse und »hat Platzierungen unter den ersten fünf eingeheimst«, außerdem ist er, wie Annemi stolz vermeldet, »Mitglied einer Rugby-Mannschaft«. Der Schwiegersohn Hänschen Pracht, über den es keine Superlative zu berichten gibt, der aber zumindest eine Einladung im Palast eines Prinzen in Saudi-Arabien vorweisen kann, wird wie jedes Jahr von seiner Frau Evi übertroffen, die »von Erfolg zu Erfolg galoppiert«. Ihr gemeinsamer Sohn Jo-Jo ist »eine ausgesprochene Sportskanone. Er ist als Torwart in die Kreisauswahl berufen worden und spielt im kommenden Jahr in ganz Deutschland und auch im Ausland.« Damit ist die Liste seiner Erfolgsmeldungen noch nicht zu Ende, denn er ist auch Jugendmeister im Tennis. Das Mofa, das er, wie Annemi schreibt, »so sehr liebt«, sollte ihm schon bald zum Verhängnis werden.
Mein Stiefbruder Johannes darf, so wie er es von klein auf getan hat, auch bei den Weihnachtsbriefen aus der Reihe tanzen. Er ist der Einzige, der nicht mit Leistungen aufwarten muss. Annemi schreibt über ihn: »Johannes hat das Flair eines barocken Landesfürsten, der die schönen Dinge des Lebens liebt.« Über seinen Sohn Markus lassen sich auch keine Höchstleistungen vermelden, darum sind ihm auch nur drei Zeilen zugedacht, in denen er als »echter kleiner Kavalier« aufgewertet wird. Die füllige und eher unsportliche Pflegetochter Sigrid, die bei den Erfolgsmeldungen so gern mithalten möchte, macht, obwohl sie im Stall meines Pflegevaters nie geritten ist und keine diesbezüglichen
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