Wie ein Haus aus Karten
überreiche, und kann kaum abwarten, bis diese Zeit findet, die ersten Kapitel meiner Geschichte zu lesen. Ihre Reaktion habe ich nie vergessen. Auch das Verstehen im Nachhinein mindert nicht den Schmerz von damals, die Verwirrung, die Enttäuschung, die Ratlosigkeit und die Ohnmacht.
Annemi sitzt an meinem Bett und erklärt mir ohne Umschweife, dass sie noch nie etwas so Peinliches gelesen habe und dass es genau in das Bild passe, das sie von mir habe: Ich sei unehrlich, belüge mich und andere, sei eingebildet und selbstgefällig, da ich mich selber als Heldin des Romans dargestellt habe. Ich bin wie erstarrt, bis langsam, aber unaufhaltsam ein Strom von Tränen in mir aufsteigt, der erst Stunden später wieder versiegt, als ich erschöpft in einen traumlosen Schlaf falle.
Meine Pflegemutter hat die Situation damals treffend analysiert, aber nicht richtig interpretiert. Ich glaube damals nicht, dass ich dieses wunderbare Geschöpf Bea bin, aber ich wäre gern so. Ich habe mich aus einer bedrückenden Realität, mit der ich nicht fertig werde, in eine glückliche, wolkenlose Welt hineingeschrieben, eine Welt, in der ich geliebt werde, eine Welt, in der alles in Ordnung ist. Solange ich schreibe, habe ich die Macht, alles selbst zu bestimmen. Es ist ein Gefühl von Freiheit.
Damals ist mir das nicht bewusst. Annemi glaubt, das Richtige zu tun. Sie ist davon überzeugt, dass sie mir die Wahrheit schuldig ist, ihre Wahrheit, nicht die meine. Das herauszufinden kostet mich Jahrzehnte meines Lebens.
Herauszufinden, was mit mir geschieht, als der musikalische Wunderknabe Wolfram König, der damals beim Frühstück am Kopfende der Tafel sitzt und dem überraschten Necko als sein neuer Pflegesohn vorgestellt wird, in mein Leben tritt, dauert nicht ganz so lang, ist aber ähnlich schmerzhaft. Ich habe mich verliebt. Wolfram ist mit seinen sechzehn Jahren kein musikalisches Wunderkind mehr, aber ein vielversprechendes Talent. Seine in Kassel lebende Mutter hat von den künstlerischen wie karitativen Neigungen der Frau Neckermann gehört und ihr kurzerhand einen Brief geschickt. Darin schreibt sie, dass sie Witwe sei, dass man ihrem Geige spielenden Sohn Wolfram eine große Karriere vorausgesagt habe und dass ein Studium an der Musikhochschule in Frankfurt den ersten Schritt auf diesem Weg bedeute. Der Brief endet mit der Bitte an Frau Neckermann, Wolfram in die Familie aufzunehmen, weil sie, die Mutter, selber kein Geld habe, die Ausbildung ihres Sohnes zu bezahlen. Ich glaube nicht, dass Annemi lange überlegt hat, sie liebt eine große Familie, die finanziellen Opfer halten sich in überschaubaren Grenzen, und wir haben endlich einen echten Musiker im Haus.
Während Literatur und Kunst in der Familie keine nennenswerte Aufmerksamkeit geschenkt wird, unser Bücherbestand so bescheiden ist, dass dafür kein Regal vonnöten ist, und unser Urteilsvermögen zum Thema Kunst in die Kategorie »Picasso ist doch kein Künstler, sondern ein Schmierfink« einzureihen ist, stellt Musik eine tragende Säule des Familienlebens dar. Noch heute sehe ich, wenn ich eine Klavier-Sonate von Schumann höre, meine Pflegemutter am Flügel sitzen. Ich habe mich damals leise in ihre Nähe geschlichen und mir vorgestellt, sie spielte nur für mich.
Trotz intensiver Bemühungen gelingt es Annemi nicht, in all ihren Kindern eine ähnliche Musikbegeisterung zu entfachen. Die Familie spaltet sich in Klavierspieler und Nicht-Klavierspieler, ebenso wie sie sich bereits in Reiter und Nicht-Reiter aufteilt. Die Gruppierungen sind nicht identisch. Ich gehöre zu den Klavier spielenden Nicht-Reitern, Evi und Johannes zu den Klavier spielenden Reitern und Peter zu den nicht Klavier spielenden Nicht-Reitern, nachdem diese Sportart bei ihm kein anhaltendes Interesse hervorgerufen hat.
Annemi hat ein Abonnement für die Museumskonzerte in der Frankfurter Oper, zu denen sie die musikinteressierten Familienmitglieder abwechselnd begleiten dürfen. Oft nimmt sie mich mit, und ich verdanke diesen Abenden meine lebenslange Liebe zur klassischen Musik. Vor allem aber stammt aus dieser Zeit meine zunächst spröde, im Laufe meines Lebens immer intensivere Beziehung zum Werk Gustav Mahlers, dem Georg Solti, einer der ersten großen Mahler-Interpreten, in seiner Frankfurter Zeit zu neuem Ruhm verholfen hat.
An der Seite meiner Pflegemutter erlebe ich die Pianisten Monique Haas, Wilhelm Backhaus, Aram Chatschaturjan und sogar noch Elly Ney, die überwältigende
Weitere Kostenlose Bücher