Wie ein Haus aus Karten
entscheiden.« Ich habe diesen Rat nicht in Frage gestellt, und in Verbindung mit einem weiteren – »Wenn Du Dich mit einem Mann einlässt, verlierst Du Deine Selbstachtung« – hat mich das sicher vor mancher überflüssigen Enttäuschung bewahrt. Für mich steht erst einmal außer Frage, dass es sich bei der Selbstachtung um etwas Kostbares handeln muss, und ich habe keine Lust, sie aufs Spiel zu setzen.
Als ich die Angelegenheit angesichts einer Reise mit meinem damaligen Verlobten an die Atlantikküste nicht mehr ganz so theoretisch betrachten kann, hat meine Pflegemutter längst einen Pakt mit ihm geschlossen. Da ein solches Versprechen, wie sie meint, nur von männlicher Seite wirkungsvoll gegeben werden kann, ist er es, der versichern muss, dass wir während des Urlaubs »keusch« bleiben. Er gibt ihr die Hand darauf, und ich stehe daneben und weiß nicht, was ich sagen soll. Der Bund zwischen meinem Verlobten und meiner Pflegemutter ist besiegelt.
Die darauffolgenden Urlaubswochen sind demgemäß nicht von zärtlicher Annäherung erfüllt, sondern durch Abstinenz gekennzeichnet. Wir buddeln uns gegenseitig im Sand ein, bis nur noch der Kopf herausschaut, während andere Paare engumschlungen am Strand liegen, wir mischen uns unter die älteren Herrschaften im einzigen Kino des Ortes, und abends beim gemeinsamen Zu-Bett-Gehen ist mir entweder von den Mengen Vanilleeis übel, die ich während des Tages verschlungen habe, oder ich kann wegen eines stark juckenden Sonnenbrands keine Ruhe finden. An Schlaf ist in den sehnsuchtsvollen Nächten unter südlicher Sonne ohnedies nicht zu denken.
Die erste ebenfalls gescheiterte, wenn auch rein theoretische Annäherung an den Umgang mit dem anderen Geschlecht findet Jahre zuvor in Annemis Ankleidezimmer am Ostbahnhof statt. Es gehört wie das Schlafzimmer zu den Privaträumen meiner Pflegeeltern. Es gibt Grenzen in der Familie, die nicht ausgesprochen und dennoch nicht überschritten werden. Eine davon ist die Intimsphäre, worunter auch ein nackter, den Blicken anderer Familienmitglieder ausgesetzter Körper fällt. Natürlich gibt es Urlaubsfotos, die Annemi im Bikini zeigen, und auch Necko an ihrer Seite lässt, nur mit einer Badehose bekleidet, seine langen, dünnen, von der Sonne der Côte d’Azur gebräunten Beine, die durch das Reiten eine fröhliche O-Form angenommen haben, sehen. Etwas Intimes haben diese Fotos dennoch nicht. Meine Pflegeeltern bleiben, selbst spärlich bekleidet, ein tadelloses, korrektes Paar, das sogar für das Urlaubsfoto im Gleichklang lächelt, während es den Bauch ein- und die Schultern hochzieht. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Annemi, wann immer sie uns in ihr Ankleidezimmer bittet, nie ausgekleidet ist.
An einem Sonntag, das Mittagessen im Kreise der Familie ist gerade beendet und der Mokka serviert, ruft Annemi meine Schwestern und mich in besagtes Ankleidezimmer. Sie selbst verschafft sich auf der Chaiselongue Platz, indem sie ihre inzwischen mehr als dreißig Kuscheltiere behutsam zur Seite schiebt. Die Zahl ihrer knopfäugigen und -ohrigen Mitbewohner erhöht sich fast täglich. Jeder, der um eine Geschenkidee für Annemi verlegen ist und den finanziellen Aufwand in überschaubaren Grenzen halten möchte, greift auf Steifftiere zurück. Ihre zweite Sammelleidenschaft, Miniaturen aus Elfenbein, kommt da schon wesentlich teurer.
Nachdem auch wir Mädchen uns einen Platz gesucht haben, blickt uns Annemi ernst und ein wenig unsicher an. Sie sitzt da, zierlich, fast scheu, aber überzeugt, sich wieder einmal einer Pflicht stellen zu müssen, diesmal der Pflicht, uns aufzuklären. Als sie das Wort »Aufklärung« endlich über ihre Lippen bringt, atmen wir auf. Also keine Katastrophe, keine unheilbare Krankheit, die sie uns schonend beibringen will. Was diese Versammlung bemerkenswert macht, ist die Tatsache, dass bis auf mich, die Jüngste, alle meine Schwestern das aufklärungsreife Alter längst überschritten haben. Bei meinen Stiefbrüdern Peter und Johannes ist Necko für diese Aufgabe zuständig. Ich glaube aber, er hat die auch ihm peinliche Pflicht an den Familienfreund Toni Rommel übertragen.
Meine ältere Schwester Uschi hat, ebenso wie Sigrid, bereits einen Freund. Uschi ist sogar verlobt, und Juli und Evi, die fast gleichaltrigen Stiefschwestern, haben diesbezüglich schon die wichtigsten Informationen ausgetauscht. Selbst bei mir hat kurz zuvor eine unfreiwillige Aufklärung, zumindest über meine
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