Wie ein Haus aus Karten
nichts von mir. Sie ist eine junge Frau, ich bin noch ein Kind. Da gibt es keine Gemeinsamkeiten. Manchmal besuche ich Juli in ihrem Zimmer, wenn sie, die Einzige in der Familie, die Jazz bevorzugt, den Ton so laut aufdreht, dass ich mir die raue Stimme von Billy Holliday lieber neben dem Plattenspieler sitzend anhöre als durch die Wand. Dann schaue ich ihr dabei zu, wie sie sich die Fußnägel rot lackiert, ohne zu begreifen, wofür diese Prozedur im Winter nötig ist, und stehe neben dem Spiegel, wenn sie sich die Wimpern tuscht und dabei die Lippen öffnet wie ein Fisch, der nach Luft schnappt. Sie ist die Einzige, von Annemi abgesehen, die sich schminkt. Aber bei meiner Pflegemutter darf ich nicht zuschauen.
Ein Foto aus dieser Zeit zeigt meine Schwester Juli, wie ich mich am liebsten an sie erinnere. Sie ist neunzehn Jahre alt. Lachend und selbstbewusst schaut sie in die Kamera. Ganz offensichtlich kokettiert sie mit dem Fotografen. Ihr blondes Haar ist zu einem Pferdeschwanz gebunden, der Pony gelockt, und an ihren Ohrläppchen baumeln Modeschmuck-Kirschen, die so rot sind wie ihre Lippen. Viele, die meine Mutter noch erlebt haben, meinen, dass Juli große Ähnlichkeit mit ihr habe, auch in ihrem Wesen. Sie liebt das Leben, sie tanzt gern, sie feiert gern, und sie ist warmherzig und hilfsbereit. Neben ihrer vor Lebenslust knisternden Weiblichkeit dieser Jahre nimmt sich die nur wenig ältere Stiefschwester Evi fast knabenhaft aus. Im Gegensatz zu dieser besucht Juli gern Bälle und die damals beliebten Fünf-Uhr-Tees. In einem Cocktailkleid aus schillerndem Goldbrokat, das sich wie ein Panzer um ihre Figur legt, goldenen Pumps und den nach der Mode der Zeit hochtoupierten Haaren sieht sie aus wie ein Rauschgoldengel, wenn auch einer mit irdischen Gelüsten, was nicht die ungeteilte Zustimmung der Familie findet.
Der echte Rauschgoldengel dagegen, der aus Goldlamé im plissierten, langen Rock, mit fein modelliertem Wachsgesicht und weißem Engelshaar, der alle Jahre wieder auf der Spitze des Weihnachtsbaums thront, vereint alle, denn Weihnachten ist das Fest meiner Pflegemutter und somit auch der ganzen Familie. Es wirft lange Schatten voraus. Die Neckermann’schen Weihnachtsfeste ziehen sich wie ein roter, genauer gesagt güldener Faden durch viele Jahrzehnte. Der Ort aber, an dem ich die Familien-Weihnachtsgeschichte erzähle, ist unsere Wohnung in der Firmenzentrale am Ostbahnhof, weil dort meine Erinnerung an Weihnachten beginnt.
Aus dem Neckermann’schen Weihnachtsfest wird im Laufe der Jahre ein Weihnachtskult, und alles beginnt mit den Weihnachtsbriefen. Nachdem Annemi feststellt, dass es unmöglich ist, allen Familienmitgliedern und Freunden zu Weihnachten zu schreiben, verfasst sie jedes Jahr einen Rundbrief. Versehen mit goldenen Sternchen, sind sie nicht nur Dokumente über ihre Familie, sondern auch Ausdruck ihrer Zeit. Die Weihnachtsbriefe sind naiv in ihren politischen Kommentaren, emotional, wenn meine Pflegemutter von ihrem Mann und ihren Tieren berichtet, und voller Stolz, wenn es um ihre Kinder und Enkel geht, die in diesen Schreiben vor allem an einem Kriterium gemessen werden: der Leistung. Genau genommen sind die Weihnachtsbriefe keine Briefe, sondern Bilanzen, die meine Pflegemutter alle Jahre wieder aufstellt. Ohne Zahlen zu nennen, verteilt sie Noten. Bewusst ist sie sich dessen wohl nicht.
Irgendwann Ende November zieht sich Annemi eines Abends früher als gewöhnlich in ihr Arbeitszimmer zurück und beginnt mit der Niederschrift. Oft will die Weihnachtsstimmung nicht recht aufkommen, weil es draußen regnet, der Himmel grau und trüb aussieht und die Zeit noch nicht gekommen ist, das Weihnachtsoratorium von Bach aufzulegen, das erst ab dem 1. Advent in der Familie zum Einsatz kommt. So bleibt nur eine brennende Kerze, um meine Pflegemutter in vorweihnachtliche Stimmung zu versetzen. Ist es bereits eisig kalt, fällt der Einstieg in die Weihnachtsbriefe leicht. Annemi schreibt: »Draußen schneit und schneit es, jeder Baum und jeder Strauch hat ein weißes Mützchen auf, und die Vögel drängeln sich an unserem Vogelhäuschen.«
Ich besitze fast alle Weihnachtsbriefe meiner Pflegemutter. Mit wenigen Ausnahmen folgen diese Briefe, die Annemis Gefühls- und Gedankenwelt ebenso wie ihre Werteskala trefflich widerspiegeln, immer dem gleichen Muster. Nach allem, was ums Haus flattert, hüpft oder kriecht, kommen die Hunde an die Reihe, danach sind die Pferde dran: Trampas,
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