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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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einen Kuss.« Natürlich hat er ihn bekommen, meinen ersten Kuss. Danach kann ich nicht mehr schlafen, nicht mehr denken und nicht essen. Wir schleichen fortan schuldbewusst in das Zimmer des anderen und fallen uns in die Arme. Bei Tisch werfen wir uns verstohlene Blicke zu. Wir haben eine unausgesprochene Übereinkunft, dass niemand etwas von unserer Liebe erfahren darf, vor allem Annemi nicht, und wissen doch beide, dass sie die Erste sein wird.
    Den Heimlichkeiten, die nur für kurze Zeit ihren Reiz haben, sind wir nicht gewachsen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: Wolfram nicht, weil ihm bewusst ist, dass er sich seiner Gönnerin gegenüber ins Unrecht setzt und seine Karriere gefährdet, was er um keinen Preis möchte, und ich nicht, weil ich spüre, dass unsere kindliche Seligkeit an einem seidenen Faden hängt. Schuldgefühle habe ich nicht. Als Annemi den Zeitpunkt für gekommen hält, mit uns zu sprechen, tut sie es mit jedem von uns getrennt. Wolfram richtet nach diesem Gespräch unter vier Augen kein persönliches Wort mehr an mich. Wenn ich ihn frage, warum er sich so verhält, schweigt er. Verliebtheit, Vertrauen und Vertrautheit lösen sich von einem Tag auf den anderen in nichts auf.
    Um mir unmissverständlich deutlich zu machen, dass unsere Liebe endgültig vorbei ist, beginnt Wolfram nun mit meiner Schwester Juli zu flirten. Sie geht darauf ein. Vielleicht kennt sie die Hintergründe nicht einmal. Ich stürze aus dem siebten Himmel der ersten Liebe im freien Fall in das schwarze Loch des ersten Liebeskummers.
    Ich bin vierzehn Jahre und beschließe zu sterben. Ich öffne das Fenster meines Kinderzimmers im fünften Stock, steige auf das Fensterbrett und blicke in die Tiefe. Vielleicht habe ich gehofft, meine Pflegemutter würde im letzten Augenblick ins Zimmer kommen, mich vom offenen Fenster wegreißen, in die Arme schließen, und alles wäre endlich, endlich wieder gut. Aber sie kommt nicht, und nichts wird gut. Es ist bereits dunkel, nur die rotleuchtenden Buchstaben »Neckermann« über dem Kaufhauseingang unter mir verbreiten ein warmes, flimmerndes Licht. Lange stehe ich so und halte mich krampfhaft am Fensterrahmen fest, bis die Finger schmerzen. Ich bin nicht schwindelfrei. Fast wäre ich tatsächlich hinuntergefallen, allerdings nicht aus eigenem Antrieb, sondern vor Schreck. Ich höre Menschen von der Straße zu mir hinaufrufen. Das ist das Signal für meinen kleinlauten Rückzug ins Leben.
    Ich habe sie überlebt, meine erste, große, unglückliche Liebe. Damals muss ich mir unbewusst vorgenommen haben, dass es genug ist mit den Verletzungen. Wenn es in Zukunft Verletzungen gibt, dann will nicht ich es sein, die sie davonträgt. Ich steige nach dieser neuen Erkenntnis nicht gleich wie der Phönix aus der Asche, aber ich lerne instinktiv zu taktieren, wenn auch zunächst defensiv. Habe ich das unbestimmte, oft nicht einmal zutreffende Gefühl, ein geliebter Mensch könnte mich verlassen, komme ich ihm zuvor.
    Jahrzehnte später begegne ich meiner ersten großen Liebe wieder. Wolfram hat eine Frau, die zu ihm passt, und zwei Kinder, die ebenfalls musizieren. Er ist immer noch Musiker, jetzt aber vor allem Musiklehrer. Nun träumt er von der Karriere seiner Kinder. Bei dieser Begegnung erzählt er mir vom Inhalt des Gesprächs mit meiner Pflegemutter, damals am Ostbahnhof. Annemi hat ihm ein Ultimatum gestellt. Entweder er bricht alle Kontakte zu mir ab und sagt mir auch nichts vom Inhalt der Unterredung, oder er muss gehen. Wolfram schweigt und bleibt.
    Über Gefühle wird in der Familie nicht offen gesprochen. Auch wir Geschwister sind zurückhaltend, was gegenseitige Offenbarungen unseres Innenlebens angeht. Vielleicht ist es der Altersunterschied, vielleicht Desinteresse, vermutlich aber auch der Umstand, dass alle Familienmitglieder um Annemi kreisen wie die Motten ums Licht. Als Zentrum unserer Welt zieht sie, einem Strudel gleich, alles und alle an und auf sich. Die Kinder, die eigenen wie die angenommenen, orientieren sich an diesem emotionalen Mittelpunkt. Die Beziehung der Geschwister untereinander tritt dagegen in den Hintergrund.
    Wir beiden am Ostbahnhof wohnenden Lang-Schwestern Juli und ich bilden da keine Ausnahme. Unser Verhältnis zueinander ist eher peripher und wenig widerstandsfähig. Vermutlich auch dies eine Folge von Annemis Gravitationskraft. Obwohl unsere Zimmer nebeneinander liegen, weiß ich kaum etwas von meiner älteren Schwester Juli und sie wohl auch

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