Wie ein Haus aus Karten
sind rosa gefärbt. Ein anderes Mal lässt Annemi Weihnachtskugeln anfertigen, bei denen die obere Hälfte hellblau und die untere silbern ist. Auch die Kerzen leuchten in beiden Farben. Die Krönung aber bildet der Christbaumschmuck, bei dem die Kugeln wie Schneebälle aussehen, auf denen bunte Steinchen wie Diamanten glitzern.
Es ist ein feierlicher Augenblick, wenn Annemi die Weihnachtsglocke läutet, worauf die Familie, Erwachsene und Kinder, bereits seit Stunden festlich gekleidet und startbereit gewartet hat. Als sich die Tür zum Klavierzimmer öffnet, das sich, seit Wochen mit dunklen Tüchern verhängt, in die Weihnachtswiese aus »Peterchens Mondfahrt« verwandelt hat, steht meine Pflegemutter da wie der Erzengel Gabriel am Himmelstor. Und während sie sich ans Klavier begibt und Weihnachtsweisen spielt, setzen wir Kinder uns auf die Bänke in der ersten Reihe. Die Erwachsenen nehmen in bequemen Sesseln dahinter Platz, denn zunächst kommen die Darbietungen. Wir Akteure sind hin- und hergerissen zwischen der Neugierde, den für uns bestimmten Gabentisch ausfindig zu machen, und dem Lampenfieber vor dem Auftritt.
Das Weihnachtsprogramm setzt sich vor allem aus Klavierstücken und Gedichten aus der Feder meiner Pflegemutter zusammen. Sie schreibt sie anfangs für ihre Kinder, später für die Neckermann-Kunden, die sie in der Adventszeit mit der bestellten Ware gratis mitgeliefert bekommen, so dass ein Hauch der Neckermann’schen Weihnacht auch die Stuben der Normalverbraucher streift.
1954 erscheint in einer Frauenzeitschrift einer der wenigen Artikel über meine Pflegemutter. Darin wird erst einmal gerätselt, wer hinter diesen rührenden Weihnachtsgedichten steckt. Die Schreiberin fragt sich: »Ist es eine Frau, die in aller Beschaulichkeit ihren Haushalt führt und in einer glücklichen, abgeschiedenen Welt für Mann und Kinder lebt?« Nach dieser Einleitung wird das Geheimnis gelüftet: »Nein, es ist nicht eine normale Hausfrau, es ist Annemarie Neckermann, die Frau des Versandhauskönigs«, welche die Gedichte zur Freude der eigenen Familie wie zu der aller anderen deutschen Familien verfasst, die zum ständig wachsenden Neckermann-Kundenstamm gehören.
Zunächst bestehen die Heftchen aus zehn Seiten und sind mit kleinen Schwarzweißzeichnungen illustriert. Dann werden sie Auflage um Auflage erweitert. Auf dem Deckblatt der ersten hält ein kleiner Junge ein großes Herz in der Hand, auf dem der zweiten Ausgabe, die schon vierundzwanzig Seiten umfasst und den Titel »Gedichte für mein Kind« trägt, prangt ein Tannenbaum, der von den Tieren des Waldes eingerahmt wird. Später hat das Gedichtbändchen, das nun als Hardcover erscheint, sogar vierundsechzig Seiten, und die Zeichnungen sind nicht mehr schwarzweiß, sondern in Farbe. Im Vorwort zu dieser Ausgabe schreibt Annemi, dass inzwischen schon ihre Enkel mit der gleichen Begeisterung und leuchtenden Augen ihre Gedichte aufsagen wie damals ihre Kinder.
Meine Pflegemutter hat recht, wir lieben ihre Weihnachtsgedichte, die wir mit vor Aufregung heiserer und gelegentlich stockender Stimme, wiewohl mit Inbrunst vortragen. Das schönste Weihnachtsgedicht, »Die Christkindleinsuche«, ist alle Jahre wieder meinem Stiefbruder Johannes vorbehalten. Jedes Jahr wünsche ich mir vergebens, auch einmal die Geschichte von dem Kind aufsagen zu dürfen, das in den Wald läuft, um das Christkind zu suchen, bis ihm schließlich ein Engel im Traum erscheint und sagt: »Das Christkind findest du ganz allein, tief drin in deinem Herzelein.« Johannes, inzwischen zum pubertierenden Jungmann gereift, betont diese beiden letzten Zeilen so herzzerreißend, dass sich Annemi ob der gelungenen Interpretation ihres Textes verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel wischt.
Nach diesem überzeugenden Vortrag und der Wiedergabe weiterer literarischer Einlagen aus pflegemütterlicher Feder, die den übrigen Kindern zugedacht sind, folgen kleine Klavierstücke von Scarlatti und Haydn, die Evi und ich mit feuchten Fingern mehr schlecht als recht absolvieren. Es ist wieder Johannes, der hier für den Höhepunkt sorgt. Beim Largo von Händel greift er, beide Füße schwer wie Blei auf den Pedalen, so heftig in die Tasten, dass die Christbaumkugeln des auf dem Flügel platzierten Weihnachtsbaumes, die wie Schneebälle aussehen, im Takt mitschwingen, bis sie klirrend aneinanderschlagen und tatsächlich leise der Schnee rieselt.
Einmal aber gelingt es mir, Johannes mit meiner
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