Wie ein Haus aus Karten
Neigungen hat erkennen lassen, später Pluspunkte mit dem Kauf von Pferden, die sie zusammen mit ihrem Mann reitet. Pflegekind Wolfram, schreibt Annemi in einem anderen Weihnachtsbrief, »konnte ich zu einer ganz wertvollen Guadagnini-Geige aus dem Jahr 1760 verhelfen, die ihn auf der Erfolgsleiter vielleicht auch ein Schrittchen nach oben bringen wird«. Dass sie damals schon skeptisch gegenüber seiner herausragenden musikalischen Begabung gewesen sein muss, wird mit dem Wort »Schrittchen« angedeutet. Die Hoffnung auf einen großen Schritt hat sie bereits aufgegeben.
Dass Annemi alle Preise, Ehrungen und Auszeichnungen so genau angeben kann, ist nicht einem phänomenalen Gedächtnis zuzuschreiben, sondern dem Umstand, dass die Kinder, die alle im Weihnachtsbrief gut platziert sein wollen, dafür sorgen, dass die Liste ihrer Erfolgsmeldungen rechtzeitig vor Weihnachten bei der Schreiberin eingeht. Fast alle Neckermann-Töchter, -Schwiegertöchter und -Enkelinnen, anscheinend sind Weihnachtsrundbriefe Frauensache, wollen es Annemi gleichtun und verfassen nun ihrerseits allweihnachtlich eigene Rundbriefe, ob sie etwas zu sagen haben oder nicht. Es bleiben müde Kopien.
Meine Pflegemutter aber, wie man die Briefe im Einzelnen auch betrachten mag, hat etwas zu sagen. Sie bringt zum Ausdruck, was in ihren Augen eine Familie zusammenhält: der Stolz dazuzugehören, die Leistung des Einzelnen, die die Familie als Ganzes auszeichnet, und der gemeinsame Wille zum Erfolg. Dass aus dem Willen zum Erfolg Zwang wird und schließlich Druck, dem nicht alle Familienmitglieder gleichermaßen gewachsen sind, hat sich Annemi nicht bewusst gemacht und sicher nicht gewollt. Die Folgen verhindern kann sie im entscheidenden Moment aber auch nicht.
In den November fällt auch der Beginn aller anderen Weihnachtsvorbereitungen. Es fängt mit dem Erstellen von Geschenklisten an, wobei die weitverzweigte Familie nur einen kleinen Teil derer ausmacht, die es zu beglücken gilt. Die Friseuse gehört zu den Beschenkten ebenso wie der Masseur, der Postbote, die Zeitungsfrau und die Verkehrspolizisten, die an den Verkehrsknotenpunkten im Zentrum Frankfurts Dienst tun und die Arme auf freie Fahrt schwenken, sobald sie von weitem das weiße Mercedes-Cabriolet von Frau Neckermann kommen sehen.
Zu Hause wird ein Zimmer eigens für das Päckchenpacken leer geräumt. Übrig bleiben nur die Tische, auf denen sich die Geschenke stapeln, andere, auf denen sie verpackt werden, und ein Regal mit Weihnachtspapier und Bändchen. Nicht jedes Familienmitglied darf diese verantwortungsvolle Aufgabe übernehmen, weswegen Annemi schwerpunktmäßig auf Sekretärinnen der Firma zurückgreift. Ein Geschenk muss, so die Philosophie meiner Pflegemutter, mit der gleichen Sorgfalt verpackt werden, mit der es ausgesucht worden ist. Jedes Geschenk wird vermessen, damit beim Verpacken nicht zu viel Papier abfällt, die Zuhilfenahme von Tesafilm ist untersagt, und die Schleifen dürfen nicht einfach gebunden werden, sondern müssen mindestens vierfach verschlungen sein.
Es gibt zudem genaue Anweisungen darüber, wie das kleine Geschenkkärtchen befestigt werden soll, nämlich nach dem Knoten und bevor die Schleife gebunden wird. Ich hätte mich gern als willige Helferin ins Spiel gebracht, denn natürlich wird beim Päckchenpacken viel erzählt und gelacht. Doch meine Versuche sind in den Augen meiner Pflegemutter nicht zufriedenstellend. Ich bin zu ungeschickt.
Den Weihnachtsbaum bestellt Annemi bereits im September. Sie gibt die Höhe an, die Länge der Zweige, die Abstände zwischen ihnen, die Dichte und die Art der Nadeln. Alles wird genau festgelegt, nichts dem Zufall überlassen. Es ist ihr persönlicher Ehrgeiz, den schönsten Weihnachtsbaum weit und breit zu haben. Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Schönste im ganzen Land? Die Beantwortung dieser Frage hängt aber nicht nur vom Tannenbaum selbst ab, sondern auch von seinem Schmuck. Nachdem anfänglich noch große goldene oder silberne Kugeln ausreichen, die weihnachtliche Stimmung würdig zu unterstreichen, gibt sich Annemi schon bald nicht mehr damit zufrieden. Sie will uns jedes Jahr aufs Neue überraschen. Das ist ihr immer gelungen.
Alle Jahre wieder setzt uns der Christbaumschmuck, den meine Pflegemutter bereits im Sommer in Auftrag gibt, in freudiges Erstaunen. Einmal ist es ein Rausch in Rosa: rosa Kerzen und rosa Kugeln, über denen rosa Schleifen befestigt sind. Sogar die Kerzenhalter
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