Wie ein Haus aus Karten
was aus dem selbstbewussten Kind der Würzburger Tage in nur kurzer Zeit geworden ist. Es hat sich von einem fröhlichen und selbständigen Mädchen in ein unsicheres, abhängiges Wesen verwandelt, das in allen Tonarten um Liebe winselt. Umso bemerkenswerter ist daher der Umstand, dass sich schon damals Ansätze von Auflehnung erkennen lassen. Erste Zeichen entnehme ich meinem Tagebuch. Dort notiere ich am 19. August 1956, wie ärgerlich meine Pflegemutter über mich ist. Meine Schwester Juli, steht da zu lesen, habe ihr gesagt, dass ich eingebildet sei. Im Tagebuch heißt es weiter: »Mutti hat vorhin sehr kühl zu mir bemerkt: Es spricht einiges gegen dich.« Und ich fahre fort: »Früher hätte ich geweint und gebeten, dass sie mir nicht mehr böse ist. Nun ist alles ganz anders, denn ich kenne mich genau. Ich bin auch nicht mehr oder weniger eingebildet als andere Menschen, und die schrecklichen Komplexe, die ich hatte, will ich auch nicht wieder haben, keinesfalls, auch wenn Mutti mich runterputzt.« Das Wort »keinesfalls« klingt wie eine Beschwörungsformel und das Wort »runterputzen« im Zusammenhang mit der Pflegemutter respektlos. Dennoch schätze ich die Folgen richtig ein, wenn ich die Tagebucheintragung mit dem Satz beende: »Ich weiß, wie schwer es ist, sie [die Pflegemutter] zu verlieren.«
Trotz meiner zahllosen Briefe an Annemi gibt es Dinge, die ich ihr verschweige. Es ist die Heimleiterin, die ihr nicht ohne Sorge mitteilt, dass »Ihre Pflegetochter aus missverstandener religiöser Euphorie drei Tage nichts gegessen und vor allem nichts getrunken hat«. Eine in Anbetracht meiner einen Niere nicht ungefährliche Fastenübung, die mit hohem Fieber, einer Nierenkolik und einem mehrwöchigen Aufenthalt im Krankenzimmer des Internats endet. Die Heimleiterin hat es nicht leicht mit dem überspannten Mädchen, das sie ins Herz schließt und im Auge behält. Aber ich werde älter, mit der Zeit entspannter und schließlich ein überwiegend nützliches Mitglied der Internatsgemeinschaft. Auch mein Kampfgeist kehrt langsam zurück. Ich weigere mich hartnäckig, länger in der Böhr-Familie zu bleiben. Alle Schülerinnen sind in Zehnergruppen unter einer sogenannten Familienmutter in einer »Familie« zusammengefasst. Meinen Entschluss setze ich sogar gegen den Widerstand der Heimleiterin durch. Allmählich werden meine Briefe aus dem Internat weniger weinerlich, auch wenn die Liebesbekundungen an meine Pflegemutter nicht an Intensität verlieren.
Wie geht Annemi mit diesen Briefen und dem sich darin widerspiegelnden Gefühlschaos der Pflegetochter um? Sie antwortet fast immer umgehend, ausführlich und liebevoll. Es kann ihr, trotz der ihr entgegengebrachten Liebe, nicht leichtgefallen sein, das Mädchen zu verstehen, das erst ein Jahr in der Familie gelebt hat und besonders viel Aufmerksamkeit und Zuwendung fordert. Als ich meine Pflegemutter bitte, eines meiner selbstverfassten Gedichte mit dem Titel »Angst« zu beurteilen, tut sie das mit großer Ernsthaftigkeit. Die ersten zwei Zeilen: »Ich lebe nicht, ich atme nur/denn Angst ist meine Luft«, hat Annemi mit »gut« bewertet. Hinter den beiden folgenden Zeilen: »Find ich denn niemals mehr die Spur/zu ahnungslosem Blumenduft« steht der Kommentar: »Kitsch«. Neben der letzten Zeile: »Mein Schicksal ist entschieden« macht meine Pflegemutter drei Fragezeichen. Sie schreibt: »Dein Gedicht gefällt mir mit kleinen Änderungen recht gut, nur erschreckt es mich auch. Ich werde gerne mit Dir darüber sprechen, wenn Du wieder zu Hause bist.«
Annemi nimmt ihre Aufgabe und ihre Verantwortung ernst. Ob sie das Pflegekind geliebt hat, lässt sich den Briefen nicht entnehmen, auch wenn sie schreibt: »Vergiss nicht, dass ich und wir alle Dich sehr liebhaben und nichts geschieht, was nicht der Überzeugung, das Beste für Dich zu wollen, entspringt.« In einem anderen Brief steht: »Ich möchte Dich mit aller Liebe in meine Arme schließen. Ich denke so viel an Dich und habe Dich sehr lieb – fühlst Du das?« Ich fühle es nicht, obwohl es nichts gibt, wonach ich mich in diesen Jahren mehr sehne.
Von überall schreibt meine Pflegemutter mir Briefe: aus dem Krankenhaus, als sie sich den Oberschenkel gebrochen hat, aus dem Urlaub mit Necko auf Cap Ferrat, von einer Weltreise mit ihrem Sohn Peter, vor allem aber schreibt sie beim Friseur, da sich ihre regelmäßigen Dauerwellen-Sitzungen über Stunden hinziehen. Wenn es sein muss, und es muss oft sein,
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