Wie ein Haus aus Karten
heute künstlich und bemüht. Damals muss ich wohl so empfunden haben.
Wie in den Briefen meines Bruders dreht sich auch bei mir im ersten Jahr fast alles ums Heimweh. Dennoch gibt es Unterschiede. Mein Bruder Mockel hat Heimweh nach seiner Familie, nach seinem neuen Zuhause in der Baracke. Ich habe, glaubt man dem Inhalt der Briefe, Heimweh einzig und allein nach meiner Pflegemutter. Ich schlage sogar ihr Angebot aus, Freundinnen übers Wochenende mit nach Hause zu nehmen, und begründe das mit den Worten: »Die zwei Tage will ich nur bei Dir sein und Dich genießen.«
Mit übervollem Herzen steuere ich in eine Jahrzehnte andauernde, vielfach verstrickte, von Missverständnissen und Missklängen begleitete, aufreibende Liebe zu meiner Pflegemutter, die zudem immer neu verdient werden muss. Das lähmende Gefühl der Abhängigkeit wie der Sehnsucht kann ich noch erinnernd nachempfinden, die hilflose ergebene wie hilflos fordernde Liebe, die aus meinen Briefen spricht, fühle ich nicht mehr. Sie ist so lange hochtourig gelaufen, dass sie sich, den Kolben eines Motors gleich, am Ende irreparabel festgefressen hat.
Meine neue Mutter, zu der ich bis zu meiner Abreise aus Würzburg noch keine emotionale Beziehung aufgebaut habe, will ich zum Mittelpunkt meines Lebens machen, aus dem mir meine Großmutter so unvermittelt entrissen worden ist. Ich vergötterte Annemi, weil ich damals noch einen Gott brauche.
Dass ich tatsächlich sehr unter Heimweh gelitten haben muss, geht aus einem Brief hervor, den die Heimleiterin Frau Dr. Kutzer am 5. März 1957 an die »Sehr geehrte Frau Neckermann« schreibt: »Tini hat zuerst ein wirklich unendliches Heimweh gehabt, mit dem sie es sehr schwer hatte und das ihr die Freude am Leben hier immer wieder zerstört. Sie ist ein sehr liebevolles Kind, das sich in ganz besonderem Maße an Sie angeschlossen hat. Der Mutti zuliebe versucht sie sich auch immer wieder zu überwinden und einzusehen, dass es gut für sie sei, hier sein zu können. Eine besondere Freude ist mir Tinis menschliche Sauberkeit.«
Am 6. Mai 1957, da bin ich fast ein Jahr in Hohenwehrda, hat das Heimweh einen erneuten Höhepunkt erreicht. Ich schreibe an meine Pflegemutter: »Ich habe so Heimweh nach Dir. Du musst mir versprechen, mich nie«, das Wort nie ist dreimal unterstrichen, »zu fragen, noch ein Jahr länger im Internat zu bleiben. Kannst Du mir nicht versprechen, dass ich nach diesem Jahr im Internat nie mehr wegmuss.« Meine Pflegemutter verspricht es. Kurz bevor mein erstes Jahr auf dem Internat zu Ende geht, breche ich systematisch alle Brücken ab. Ich beende den Cellounterricht bei Frau Böhr, den Klavierunterricht bei der Pianistin Margot Hofmann, die aus der DDR geflüchtet ist und sich als Ausgangspunkt für ihre Karriere im Westen vorübergehend in Hohenwehrda als Musik- und Klavierlehrerin verdingt. Bewusst schließe ich keine neuen Freundschaften mehr. In meinen Gedanken und in meinem Herzen habe ich das Internat bereits verlassen, als ich die Nachricht erhalte, noch weitere fünf Jahre dortbleiben zu müssen.
Die Nachricht kommt schriftlich, und sie kommt von meiner Pflegemutter. Der Vertrauensbruch wiegt schwer. Die angestauten Aggressionen richte ich jedoch nicht gegen die Urheberin des Übels, sondern gegen mich. Ich weiß nicht mehr, wie es dazu gekommen ist; einen bewussten Akt des Protestes hätte ich mir damals nicht zugestanden. Von einer Freundin lasse ich mir meine langen dunklen Haare, auf die ich so stolz bin, abschneiden. Auf einem Schemel im Waschsaal sitzend, wie ein Opfer auf der Schlachtbank, höre ich nur das Schnippen der Schere, während mir unaufhörlich Tränen aus den Augenwinkeln rinnen. In den Spiegel blicke ich nicht. Am nächsten Morgen erkenne ich mich kaum wieder. Das wenige, was von den Haaren noch geblieben ist, steht kurzgeschoren rundherum vom Kopf ab.
Dass ich damals ein interessantes Studienobjekt hätte sein können, erfahre ich viel später, als ich mich und damit auch meine Lektüre emanzipiere. Die amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt erzählt in Ichform in Die unsichtbare Frau davon, wie sich die Protagonistin des Romans an einem Wendepunkt ihres Lebens von ihren langen blonden Locken trennt, bis »kein Haar auf meinem Kopf länger als zwei Zentimeter« ist, und fügt hinzu: »Mein neuer kleiner Kopf schenkte mir so etwas wie eherne Befriedigung.« Und auch Rita Freedman schreibt in Die Opfer der Venus von einem Mädchen, das sich mit zwölf Jahren
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