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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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ungekämmt, die Träume der vergangenen Nacht noch hinter den halbgeschlossenen Lidern, und lassen die monotone Stimme der Heimleiterin, die den Kalenderspruch des Tages vorliest, an uns vorbeirauschen. Obwohl außer der Direktorin niemand die schläfrige Stille durchbricht, ist die Morgenkapelle wie ein Seismograph. Es gibt Tage, an denen wie vor einem Gewitter Unruhe und allgemeine Nervosität in der Luft liegen, und solche, die besinnlich und heiter dahinplätschern. Diese Gruppenstimmung, die wie eine Käseglocke über allen liegt, übt eine Macht aus, der sich keiner entziehen kann, ganz gleich, ob sie zu hysterischen Ausbrüchen aus nichtigen Anlässen oder zu allgemeiner Lethargie führt.
    Die Mahlzeiten werden im großen Speisesaal eingenommen. Jeden Tag sehne ich mit neunundachtzig anderen Mädchen das Ende des Mittagessens herbei. Es ist die Verteilung der Post, die uns vereint. Die Postfrau schüttet die Briefe aus einem großen Jutesack auf einen Tisch, ordnet sie unter unseren erwartungsvollen Blicken alphabetisch, und noch ehe sie die Namen auf den Briefumschlägen vorliest, die sie oft mehrmals wiederholen muss, weil sie die Schriftzüge nicht entziffern kann, fahren unzählige Hände gleichzeitig in die Höhe. Diese sich täglich wiederholende Szene erinnert mich an eine Robbenfütterung, nur werden uns nicht Fische zugeworfen, sondern Briefe.
    Wenn alle Briefe verteilt sind und die Mädchen wieder auseinanderlaufen, bleibt noch ein Häufchen übrig. Es sind diejenigen, die das ersehnte Schreiben nicht bekommen haben. Sie schauen sich fragend um und begreifen nicht, dass alles schon wieder vorbei ist. Die Enttäuschung kriecht langsam vom Herzen ins Gesicht, wo sie sich niederlässt. Einige beschimpfen die Postfrau, obwohl sie es ist, die uns die lebenserhaltenden Injektionen gibt. Die Briefe sorgen für eine Zufuhr an Liebe, Energie, Erinnerung und Zukunft. Danach kreist jede der Schülerinnen wieder in ihrem eigenen kleinen Kosmos.
    Die Internatszeit ist auch die Zeit meiner kleinen Gedichte von den großen Gefühlen. Ich reime Gott auf Spott, Liebe auf Hiebe, Baum auf Traum, Sonne auf Wonne, Not auf Brot. Was dabei herauskommt, ist immer das Gleiche: nicht gelebte Gefühle, die so gerne gelebt werden wollen. Die Flut meiner Gedichte, die viele Schulhefte füllt, kann man im wörtlichen Sinne schon fast als handwerkliche Tätigkeit bezeichnen, denn auch Schreiben ist Hand-Werk. Hermann Lietz, der Gründer der Landerziehungsheime, der das Handwerk als wesentlichen Teil seiner Erziehungsprinzipien ansieht, hat allerdings etwas anderes damit gemeint. Dieses Handwerk wird in Gilden, die für alle Schülerinnen Pflicht sind, erlernt.
    Ich bedrucke Stoff, nähe Schürzen, schnitze Obstschalen, binde Bücher und töpfere ein Teegeschirr, während gleichaltrige Mädchen in ihrem häuslichen, städtischen Umfeld ins Kino gehen, sich mit Freunden treffen, die Tanzstunde besuchen und ihr erstes Rockkonzert erleben. Abends, wenn eine richtige Familie, so wie ich sie mir vorstelle, gemeinsam vor dem Fernseher sitzt und Salzstangen knabbert, sitze ich wieder in der Kapelle. Diesmal nennt sie sich Lesekapelle, denn die Direktorin liest für die Schülerinnen aller Klassen aus einem Buch vor. Ich kann mich an keinen einzigen Buchtitel aus den sechs Jahren meiner Internatszeit erinnern, diese entspannte abendliche halbe Stunde habe ich jedoch als angenehm im Gedächtnis. Die eintönige Stimme der Vorleserin lässt Raum für das Umherschweifen der eigenen Gedanken. Viele davon gehen zu meiner Großmutter und nach Hause.
    Die Briefe, die ich von 1956 bis 1961 aus dem Internat an meine Pflegemutter schreibe, liegen ordentlich gebündelt vor mir. Einige Wochen nach Annemis Tod werden sie mir mit dem Vermerk »zur weiteren Verwendung« zurückgeschickt. Es ist lange her, dass ich sie geschrieben habe, und dennoch fällt es mir nicht leicht, sie zu lesen und zu analysieren. In meinem ersten Jahr im Internat habe ich wie mein Bruder Mockel damals fast täglich geschrieben. Die Briefe an Annemi vermitteln ein irritierendes Bild der Schreiberin. Wenn man nicht weiß, dass die Briefe an die Pflegemutter gerichtet sind, könnte man allein schon aus den Anreden schließen, dass es sich um Liebesbriefe handelt. Da steht: »Meine liebste Einzige«, »Meine Beste«, »Mein geliebter Schatz«, »Mein Liebstes«, »Mein Liebes«, »Meine Süße«, »Mein kleiner Schnug«. So und ähnlich beginnen sie alle, und sie wirken auf mich

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