Wie ein Haus aus Karten
André Gide und Stendhal, und ich vertiefe mich in Hölderlin und Hofmannsthal. Ich begegne den großen Frauen der Literaturgeschichte, den unkonventionellen, unangepassten, mutigen, emanzipierten und exzentrischen: Lou Andreas-Salomé, Claire Goll, Isabelle Eberhardt, Gertrude Stein, die Gräfin Reventlow, Bettina von Arnim, Simone de Beauvoir, Vita Sackville-West, Marguerite Duras und den Green-Schwestern. In meine Liebe zu Autobiographien wie Biographien beziehe ich im Laufe der Jahre auch die Lebensgeschichten männlicher Wesen mit ein.
Die Faszination, die bemerkenswerte Frauen bis heute auf mich ausüben, wird durch die Literatur genährt, in der Realität der Internatszeit aber gibt es kaum eine Schülerin, die über diesen Lebensabschnitt hinaus für mich von Bedeutung geblieben ist. Es sind in diesen sechs Jahren auf Schloss Hohenwehrda nur wenige, deren Namen ich noch weiß, und nur eine ist darunter, die aus heutiger Sicht meine persönliche Entwicklung beeinflusst hat. In der Regel, das geht aus den Familienberichten hervor, bin ich es, die Einfluss auf meine Mitschülerinnen ausübt.
Anders ist das bei meiner Freundin Isabelle. Graziös und kapriziös, wirkt sie in der Umgebung von Topfpflanzen wie eine schillernde, giftige Blume, die anlockt, um abzustoßen. Isabelle gehört zu den »hoffnungslosen Fällen« des Internatslebens. Sie stammt aus einer traditionsreichen Unternehmerdynastie. Die Eltern leben getrennt. Das Vermögen gehört zum größten Teil der Mutter, was zu Auseinandersetzungen nicht nur zwischen den Eltern, sondern auch zwischen Isabelle und ihrer Mutter führt. Mehr noch als durch Geld, das vorhandene wie das vorenthaltene, wird ihr Wesen durch die Folgen ihrer Behinderung.
Dieser körperliche Makel hebt ihre ansonsten makellose, strenge Schönheit noch hervor und steigert ihre Faszination. Im Laufe unserer Freundschaft nehme ich mit Erstaunen wahr, wie gekonnt sie ihr körperliches Defizit einsetzt, um ihre Ziele zu erreichen, und das sind vor allem Männer. Wenn Isabelle den Beschützerinstinkt wecken will, und sie hat ein untrügliches Gespür dafür, welche Strategie bei dem jeweiligen Mann Erfolg verspricht, sieht sie das Objekt ihrer Begierde mit ihren großen, grünblauen Augen hilflos an und bittet es um Unterstützung bei irgendeiner Aufgabe, die sie problemlos selber meistern könnte.
Hält Isabelle es für taktisch angebracht, die Verehrer mit Selbständigkeit zu beeindrucken, dann macht sie ihre Behinderung mit unglaublicher Geschicklichkeit vergessen. Sie hat den Instinkt eines Jägers. Das Ziel immer im Blick, legt sie die Fährte aus. Wenn sie abzieht, trifft sie. Es ist für sie mehr als ein Spiel, es geht um Sieg, dahinter steht ein unstillbares Verlangen nach Bestätigung. Meist lässt sie das erlegte Wild achtlos liegen.
Ihr physisches Handicap gleicht sie aus mit Kraft, Selbstdisziplin und Entschlossenheit. Sie bewahrt Haltung. Sie legt keinen Wert auf Mitleid, es sei denn, sie provoziert es.
Isabelles Feindseligkeit gegen ihre Mutter hat tiefe Wurzeln. Die Tochter gibt ihr die Schuld an ihrer Behinderung, da die Mutter die Krankheit aus Fahrlässigkeit, wie sie meint, nicht rechtzeitig erkannt habe. Der Grund, warum das Mädchen ins Internat abgeschoben wird, liegt nicht nur in der Eskalation der Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Tochter und dem zerrüttetem Verhältnis der Eltern, sondern dürfte auch damit zu tun haben, dass die Mutter beim Anblick der Tochter an das ihr vorgeworfene Versagen erinnert wird.
Meine Freundin erzählt mir von einer Begebenheit, die sie mit sechs Jahren erlebt. Sie besucht eine öffentliche Badeanstalt, die anderen Kinder verspotten sie und rennen hinter ihr her. Isabelle läuft weg. Sie geht nie wieder in ein Schwimmbad. Sie ist aber auch nie wieder weggerannt.
Als Isabelle ins Internat nach Hohenwehrda kommt, ist sie kein Mensch mehr, den man bedauert. Die Schülerinnen fürchten ihre Schroffheit, ihre Arroganz, und sie entwickeln Neid, Neid auf Isabelles Selbstsicherheit, ihre Schönheit, ihren Stolz und ihr Geld, das sie ganz selbstverständlich zur Schau stellt. Tragen wir damals vor allem Wollpullover in Übergrößen, so kleidet sich Isabelle in Kaschmir-Twinsets von Rodier, die ihre Perlenkette besonders gut zur Geltung bringen. Sie hat gelernt, mit ihrem Makel zu leben. Ihr Verhalten und ihr Wesen sind so darauf abgestimmt, dass mir damals gelegentlich der Gedanke kommt, sie könne gar nicht mehr auf ihn
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