Wie ein Haus aus Karten
gegen den Willen des Vaters die Haare abschneidet, um damit zu demonstrieren, dass es ein neues Stadium der Unabhängigkeit erreicht hat.
Die Trennung von den Haaren, mit der dieses Mädchen die Lösung aus einer emotionalen Abhängigkeit symbolisiert, wird bei mir zum Zeichen einer weiteren, wenn auch nicht kampflos erlittenen Niederlage. Zum kurzgeschorenen Kopf ziehe ich einen schwarzweißgestreiften Pullover an. Ich sehe aus wie ein Sträfling und werde bestraft. Die Internatsleiterin Frau Dr. Kutzer, sonst immer eine Stütze für mich, meint nun doch einschreiten zu müssen. Nach dem allgemeinen Frühstück schließt sie ihre täglichen Ansagen diesmal mit den Worten: »Diejenige unter euch, die aussieht wie ein Sträfling, darf das Heim nicht verlassen, bis die Haare nachgewachsen sind.« Es dauert vier Monate, und genauso lange darf ich nicht nach Hause.
Selbst wenn ich damals mit mir, dem Schicksal und vor allem meiner Pflegemutter gehadert habe, in meinen Briefen kommt das nicht zum Ausdruck. Ich mache Annemi weder den Vertrauensbruch noch meine Enttäuschung zum Vorwurf. Stattdessen schreibe ich: »Mein lieber Schatz, ich habe so Angst vor den ganzen fünf Jahren, die ich noch hierbleiben muss. Ich werde es sicher schaffen, weiß nur noch nicht wie. Ich halte es nur aus, wenn ich daran denke, dass Du meinst, ich profitiere davon.« Kein Wort der Kritik. Zwei Wochen später plagen mich neue Ängste. Nun glaube ich, sterben zu müssen, weil ich so starke Kopfschmerzen habe, und schildere Annemi meinen Zustand. Sie geht darauf ein und beruhigt mich in einem ausführlichen Brief: »Wenn man ›so etwas im Kopf hat‹, wie Du schreibst, einen Tumor oder eine Hirnhautentzündung, dann sind die Anzeichen dafür ganz anders. Nun beruhige Dich, mein Liebes, und lache Dich mal feste selber aus, und wenn Du hier bist, gehen wir zum Arzt.« Gründe, dass der Kopf weh tut und fast platzt, habe ich genug. Vielleicht ist meine vermeintliche Todesahnung aber auch ein unbewusster Versuch, meiner Pflegemutter ein paar zusätzliche Gefühle zu entlocken.
Gleichzeitig fühle ich mich wegen meiner traurigen Briefe schuldig und versuche das wiedergutzumachen. Ich schreibe: »Ich tue alles, was Du mir schreibst, und Heimweh und Kopfschmerzen muss man ruhig mal aushalten, ohne so viel zu jammern.« Dieser Brief endet mit dem Satz: »Du darfst Dir keine Sorgen um mich machen«, obwohl ich im Innersten ja weiß, dass Annemi, sosehr ich es mir auch wünsche, keinen Anlass zur Besorgnis sieht, zumindest was die Ursache der Kopfschmerzen betrifft. Als sie mich bei einer anderen Gelegenheit ermahnt, ehrlich zu sein, warum, geht aus ihrem Brief nicht hervor, gehe ich in meiner Antwort darauf ein, ohne nur einen Moment an meiner Schuld zu zweifeln: »Ich bin sicher unehrlich, wie Du gesagt hast, weil ich Angst hatte, irgend etwas falsch zu machen und Du könntest mir dann böse sein und mich nicht mehr liebhaben.« Und ich füge hinzu: »Muttilein, Du bist doch eigentlich sehr vollkommen und hast so wunderbare Ansichten und handelst so gut. Und da ist es doch ganz klar, dass Dir viel mehr an uns auffällt, was besser sein könnte, als einem anderen Menschen.«
Beim Lesen meiner Briefe hat mich, abgesehen davon, dass ich mit der Schreiberin von damals Mitleid habe, die Vorstellung bedrückt, dass die Liebe zu meiner Großmutter Neckermann in diesen Jahren in den Hintergrund getreten sein könnte. Nach dem Studium aller Briefe, die ich bis zu ihrem Tod an sie geschrieben habe und die ebenfalls wieder in meinem Besitz sind, wird jedoch deutlich, dass diese liebevolle, innige und durch nichts in Frage zu stellende Beziehung zu meiner Großmutter mit unverminderter Intensität andauert. Der Ton unserer Briefe ist vertraut, entspannt, ohne Erklärungsbedarf, ohne Entschuldigungszwang. Der Dialog zwischen meiner Großmutter und mir ist ungetrübt, heiter und von einer für mich noch heute verblüffenden Offenheit. Es geht in meinen Briefen an sie um alles, was mich in diesen Jahren bewegt, aber, und dies ist der Unterschied zu den Briefen an meine Pflegemutter, es geht mit keinem Wort um unsere Beziehung. Wir wissen beide, sie ist unerschütterlich. Vielleicht liegt es daran, dass ich auch bei kritischer Betrachtung der Briefe, die ich an meine Großmutter Neckermann geschrieben habe, keinen falschen Ton entdecken kann. Die Briefe an meine Pflegemutter aus derselben Zeit sind dagegen ein einziger Missklang.
Es ist bestürzend zu beobachten,
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