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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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ist Annemi streng mit mir. Enttäuschung und Ermahnungen bestimmen dann den Ton ihrer Briefe. Als ich mich über die sonst von mir verehrte Heimleiterin beschwere, weil diese fürchtet, meine Konzentration könne unter meinem großen Bekanntenkreis leiden, ergreift sie deren Partei: »Wenn Du Dich im Leben ungerecht behandelt fühlst, musst Du vor allen Dingen versuchen, Dich nicht durch unüberlegte, völlig subjektive Reaktionen selbst ins Unrecht zu setzen. Sorge bitte dafür, dass solche Entgleisungen nicht wieder vorkommen, damit machst Du Dich nur unbeliebt und lächerlich.«
    An meinen Pflegevater schreibe ich nicht aus dem Internat. In einem Brief an Annemi erkläre ich, warum: »Ich würde Papi so gerne mal schreiben, aber ich habe Angst es zu tun, weil ich mir komisch vorkomme dabei, weil Papi meine Briefe ja sowieso nicht liest, sie sind ja auch sehr langweilig. Aber bestimmt meint er, ich habe ihn nicht lieb, und das will ich nicht.« Von Necko besitze ich einen einzigen Brief. Er schreibt mir zum Geburtstag: »Bleib gesund und vergiss nicht, dass Du jetzt dabei bist, das Fundament für Dein weiteres Leben zu schaffen.«
    Neben der Korrespondenz mit meiner Pflegemutter gibt es ein weiteres schriftliches Zeugnis der Internatsjahre, die sogenannten Familienberichte. Nach über einem halben Jahrhundert halte ich sie zum ersten Mal in Händen, chronologisch geordnet und mit dem Vermerk »nicht für die Hand des Schülers«. Nach so langer Zeit ist mir noch immer das Unbehagen gegenwärtig, das ich bei der Beurteilung meiner Person empfunden habe. Vor allem aber bin ich damals beunruhigt, wie meine Pflegeeltern die »Familienberichte« wohl aufnehmen werden.
    Möglicherweise hätten mir diese Berichte sogar hilfreiche Aufschlüsse über meine Entwicklung geben können. Heute sind sie für mich auch in Bezug auf die Verfasserinnen aufschlussreich, die, nicht psychologisch geschult und nicht frei von Sympathien wie Antipathien, mit ihren Beurteilungen doch meistens ins Schwarze getroffen haben.
    Von Frau Böhr, der ersten »Familienmutter« meiner Internatsfamilie, stammt der Familienbericht vom Sommer 1957: »Tini hat durchweg gute Leistungen erarbeitet. Nach ihren eigenen Aussagen vor allem, um damit gegen ihr Heimweh anzugehen, das sie immer wieder zu überwältigen droht. Es liegt die Vermutung nahe, dass eine Wurzel ihres heftigen Heimwehs ihr bemerkenswerter Trotz ist.« Im beigefügten Brief der Heimleiterin werden die Hintergründe des Heimwehs etwas milder betrachtet. Frau Dr. Kutzer schreibt an meine Pflegemutter: »Das Heimweh ist für Tini eine ganz große Belastung bei allem guten Willen, es zu überwinden, und bei aller Einsicht, die sie aufbringt, dass die Zeit hier für sie gut und notwendig ist.« Die eine betont den Trotz, die andere die Einsicht, konstant ist nur eines: das Heimweh. Die beiden so unterschiedlichen Beurteilungen hätten meinen Pflegeeltern die Fragwürdigkeit der Familienberichte deutlich machen können. Sie tun es nicht. Mehr noch: Meine Pflegeeltern sprechen nicht mit mir darüber.
    Meine zweite Familienmutter, die Sportlehrerin Frau Hagge, beschreibt die Sechzehnjährige in ihrem Familienbericht als »ausgeglichen und ruhig«. Sie fährt fort: »Tini steht ihren Kameradinnen mit Rat und Tat zur Seite, weswegen sie auch zur Familiensprecherin gewählt wurde.« Frau Hagge bescheinigt mir Ehrgeiz und Eigensinn. Aber das ist noch nicht alles: »Zuweilen kann sie überheblich sein, vertritt ihre Ansicht mit Nachdruck und lässt sich von nichts davon abbringen. Wenn es gilt, ihre Wünsche durchzusetzen, bleibt sie hartnäckig.« Als Postskriptum ist vermerkt: »In der Auswahl ihrer Kleidung ist sie exzentrisch.«
    Ebenso aufschlussreich wie die Familienberichte sind die Markierungen am Rand, die, das erkenne ich an der kleinen, spitzen Handschrift, von meinem Pflegevater stammen. Rot angestrichen sind bezeichnenderweise die negativen Seiten meines Charakters, die noch der Korrektur bedürfen. Das Prinzip ist durchgängig. Dick unterstrichen sind die Worte »hartnäckig und eigensinnig«. Im darauffolgenden Familienbericht meiner dritten Familienmutter Frau Schreyer ist gleich ein ganzer Satz angekreuzt. Er lautet: »Tini ist eigenwillig und nicht ganz leicht zu lenken. Da ihr selbst der Überblick fehlt, wird manches, was ihrer elementaren Hilfsbereitschaft entspringt, zur bloßen Betriebsamkeit.«
    Gerade das, was Annemi und Necko bei ihrer Pflegetochter als schlechte

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