Wie ein Haus aus Karten
Eigenschaften ansehen und worüber sie sich bezüglich meiner weiteren Entwicklung Sorgen machen, sind für mich heute erstrebenswerte Tugenden: Eigensinn, Eigenwilligkeit, Hartnäckigkeit. Mag sein, dass dies nicht die Eigenschaften sind, die man mit der Vorstellung einer höheren Tochter verbindet. Bei ihren Söhnen, da bin ich sicher, wären meine Pflegeeltern auf solche Beurteilungen stolz gewesen.
Was man mir dagegen zubilligt, ist meine mir in allen Familienberichten bescheinigte Hilfsbereitschaft. Ich arbeite freiwillig im Kindergarten des Dorfes mit, spiele im Waisenhaus den Nikolaus, leiste im Krankenhaus während eines ganzen Jahres Wochenenddienst, organisiere eine Hilfsaktion für Flüchtlinge, auch wenn diese karitativen Aktivitäten durchaus eigennützige Züge haben, da ich so wenigstens für kurze Zeit dem Internat den Rücken kehren kann. Im Familienbericht von Frau Schreyer steht weiter: »Ihre elementare Hilfsbereitschaft hatte diesmal zur Folge, dass Tini alle Schüler zu Spenden für das Flüchtlingslager im Dorf aufrief, und es ist ihr nur schwer klarzumachen, dass es Dinge gibt, über die nicht sie, sondern die Eltern das Verfügungsrecht haben.« Anlass für diese Bemerkung sind die Beschwerden zahlreicher Eltern bei der Heimleitung, weil ihre Töchter einen Teil ihrer teuren Garderobe verschenkt haben. Auch ich bekomme in diesem Zusammenhang Ärger mit meinem Freund Rudi, als ich ihm freudig berichte, dass ich sein selbstgemaltes großes Ölbild, das er mir zum Geburtstag geschenkt hat, einer Flüchtlingsfamilie überlassen habe, um ihre armselige Wohnung damit zu verschönern.
Die Berichte meiner Mathematik- und Chemielehrerin Frau Dr. Schreyer, die bis zum Ende meiner Schulzeit meine Familienmutter ist, sind, obwohl sie immer wieder meine Oppositionshaltung moniert, nicht ohne Wärme und Sympathie für mich. In ihrem letzten Familienbericht zieht sie ein Resümee: »Tinis Entwicklung im Heim hat im Ganzen gesehen einen durchaus positiven Verlauf genommen. Aus dem heimwehkranken Kind des ersten Jahres wurde in der folgenden Zeit ein fleißiger, nachdenklicher junger Mensch, aufgeschlossen für alle Fragen des Unterrichts und des Lebens in der Gemeinschaft, mit Freude und Spürsinn für das Originelle, in den Unterrichtsstunden oft auch ein Hemmnis in der hartnäckigen Verteidigung vorgefasster Meinungen. Insgesamt also ein durchaus belebendes Element.«
Ob ich im Internat, aufs Ganze gesehen, glücklich gewesen bin? Vielleicht ist das nicht das Maß für diese Zeit. Nach dem ersten Heimwehjahr gibt es auch gute Phasen. Ich beginne mich einzuleben und meine soziale Rolle in dieser Gemeinschaft auszuloten, die Rolle, die ich einnehmen möchte, und die, die man mir zuschreibt. Allmählich begreife ich, dass es nicht nur darum geht, die Forderungen und Erwartungen der anderen zu erfüllen, sondern auch darum, die eigenen ernst zu nehmen. Auch in anderer Hinsicht nehme ich mich neu wahr. Nachdem ich die ersten Jahre im Internat nur weite graue Röcke und noch weitere Pullover getragen habe, entdecke ich die Freude an meinem Äußeren und damit einhergehend eine figurbetonte Garderobe.
Von meinem Taschengeld lasse ich mir im Dorf Wehrda, das unterhalb des Schlosses liegt, eine rote, ausgeschnittene Leinenbluse nähen, wage aber nicht, sie zu Hause zu tragen. Nur in den Ferien bei meiner Großmutter Neckermann kommt sie zum Einsatz. Ich kaufe mir den ersten rosa Lippenstift, obwohl ich ihn im Internat nicht benutzen darf, und ich lackiere mir die Nägel mit blauem Nagellack, auch wenn meine meist angeknabberten Fingernägel damit nicht besser aussehen und stattdessen noch die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Einen Tag bevor ich nach Hause fahre, creme ich mir mein Gesicht mit dem damals neu auf den Markt gekommenen Selbstbräunungsmittel »Tamlo« ein. Meine Bestürzung ist groß, als mein Gesicht am nächsten Morgen statt sonnengebräunt quittengelb aussieht. Die Chemielehrerin, bei der wir an diesem Tag Unterricht haben, erklärt vor der ganzen Klasse, sie werde mich das nächste Mal für chemische Versuche einsetzen. Ungeachtet solcher Rückschläge gewinne ich allmählich an Selbstvertrauen.
In dieser Zeit entdecke ich nicht nur mich neu, sondern auch das Lesen. Ich hole die alten Romane aus dem Besitz meines Vater hervor. Ich lese, was er gelesen hat, und fühle mich ihm nah: das Tagebuch des Verführers von Kierkegaard, Die Teufel von Loudun von Aldous Huxley, nahezu alle Romane von
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