Wie ein Haus aus Karten
damit, dass meine Freundin eines Tages vom Internat verwiesen wird. Sie geht auch davon aus. Dennoch kommt dieser Tag schneller, als wir erwartet haben. Die Verantwortung der Heimgemeinschaft gegenüber, auf die Isabelle einen destruktiven Einfluss ausübe, so heißt es, mache diesen Schritt erforderlich. Als der Privatchauffeur mit einer schwarzen Limousine vorfährt, um Isabelle nach nicht einmal einem Jahr auf dem Internat abzuholen, bin ich die Einzige, die im Hof vor dem Schloss steht, um von ihr Abschied zu nehmen. Sie drückt mich fest an sich und steigt in den Wagen. Ich winke. Isabelle dreht sich nicht mehr um.
Später begegnen wir uns wieder. Sie lädt mich in ihr Ferienhaus an der Ostsee ein. Sie fühlt, dass meine Ehe in der von ihr prophezeiten Sackgasse gelandet ist. Ich weiß es. Die Reise an die See markiert den letzten Schritt aus meiner ersten Ehe. Isabelle, deren Freude am Chaos sich seit den Internatstagen nicht gelegt hat, kommt meine verzwickte Situation sehr entgegen. Sie verspricht Abwechslung und Unterhaltung für sie und neue Verwirrung für mich.
Ich fahre mit meinem kleinen Sohn Matthias im Schlafwagen. Damit er in dieser ungewohnten Umgebung nicht allein im Bett liegen muss, nehme ich ihn zu mir ins obere Bett. Ich liege am Rand und habe meinen Sohn im Arm, doch ich fürchte, er könnte, während ich schlafe, über mich hinwegkrabbeln und herunterfallen. Die ganze Nacht liege ich wach und starre in die Dunkelheit. Als wir ankommen, steigt die Sonne gerade über den Horizont empor. Isabelle steht am Bahnhof. Sie trägt einen gelben Pullover, passende gelbe Kniestrümpfe und einen blauen Leinenrock. Es geht ihr gut, und sie freut sich. Ich freue mich auch, aber es geht mir nicht gut. Ich fühle, dass ich mich in den vergangenen vier Ehejahren immer weiter von mir entfernt habe, ohne noch zu wissen, wohin. Isabelle schenkt mir damals einen Ring, einen goldenen mit einem blauen Stein, aus dem das Wappen herausgekratzt ist. »Graviere deine eigene Geschichte hinein«, sagt sie, als sie ihn mir an den Finger steckt. Und sie fügt hinzu: »Ich hoffe, die Geschichte gefällt mir.«
Die Internatszeit hält noch zwei Höhepunkte für mich bereit, wenn auch der eine in einem Absturz endet. Meine sechzigseitige Jahresarbeit mit dem Titel »Das Pferd in den Märchen der Völker«, die Passion meines Pflegevaters hatte ich bei der Themenwahl nicht im Sinn, wird als die beste meines Jahrgangs ausgezeichnet. In der Begründung werden die fundierte Recherche, die über vierhundert Märchen aus zwölf Ländern einbezieht, die schlüssige Analyse und die überraschende Schlussfolgerung genannt. Die feierliche Verleihung findet in Anwesenheit aller Schülerinnen und Lehrer in der Kapelle statt. Von der Familie ist niemand gekommen. Die auf mich gerichteten Blicke der Anwesenden, die Preisverleihung und der anschließende Applaus fallen auf mich nieder wie sanfter Abendregen nach einem heißen Tag und wirken ebenso belebend wie beglückend.
Der zweite Höhepunkt ist das Abitur. Ich habe es geschafft. Sechs Jahre Internat. Sie stellen sich am Ende nicht als die schlechteste Zeit meines Lebens heraus, und auch meine Pflegeeltern sind zufrieden. Annemi und mein Stiefbruder Peter sind zur Abiturfeier aus Frankfurt angereist. Sie soll der krönende Abschluss meiner Schulzeit werden. Da ich Klassen- und Internatssprecherin bin, ist es meine Aufgabe, die Abitursrede zu halten. Nachdem die G-Dur-Messe von Schubert, die Frau Böhr aus diesem Anlass mit den Schülerinnen eingeübt hat, verklungen ist, besteige ich in der Internatsuniform, blauer Blazer und grauer Rock, das Podium und hole drei beidseitig beschriebene Blätter aus meiner Jackentasche. Es ist eine Rede, die nie gehalten wird. Nach wenigen, stammelnd über die Lippen gebrachten Sätzen versagt mir die Stimme. Ich breche in Tränen aus und laufe aus dem Saal. Diesmal ist es nicht Heimweh, sondern Abschiedsschmerz. Und es ist nicht meine Pflegemutter, die mich später tröstet, sondern die Heimleiterin.
Die Internatszeit könnte mit dieser unrühmlichen Begebenheit abgeschlossen werden, doch es sind noch zwei Dinge nachzutragen:
1. Nachtrag: Als Abitursgeschenk verspricht mir meine Pflegemutter eine Reise mit ihr nach Afrika. Es ist mein größter Wunsch. Monatelang bereite ich mich darauf vor, und die Vorfreude wächst mit jedem Tag. Annemi vergisst ihr Versprechen. Ich vergesse es nicht, aber ich wage nicht, sie daran zu erinnern. Es bleibt der
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