Wie ein Haus aus Karten
verzichten, ohne dass dies tiefgreifende Veränderungen in ihrer Persönlichkeitsstruktur hervorriefe.
Was uns über Wochen intensiv und ungetrübt verbindet, ist ein gemeinsames Projekt, das wir beide mit der gleichen Begeisterung verfolgen. Ich habe ein Märchen geschrieben, und Isabelle vertont es. Es handelt von einem unsichtbaren Wesen auf einer Wolke, einem Mulmchen, das in Liebe zu einem Prinzen entbrennt. Als es schließlich das einzige Gebot der Mulmchen, nicht zu weinen, bricht, weil es um den Prinzen, der sich in der Wüste verirrt hat, bangt, löst sich die Wolke, auf der das Mulmchen lebt, durch seine Tränen auf und geht als Regen zur Erde nieder. Den Prinzen rettet es vor dem Verdursten, und das Mulmchen, losgelöst von seiner Wolke, wird sichtbar und schwebt als bezauberndes Geschöpf, in welches sich der Prinz nun seinerseits verliebt, zur Erde nieder. Happy End. Etwas anderes hätte ich niemals zugelassen.
Ungeachtet der literarischen Schwächen komponiert meine Freundin die Musik dazu. Das Mulmchen, der Prinz, die böse Königin, der Donner, der Regen, jede Figur hat ihre eigene Erkennungsmelodie, die Isabelle mit großer Musikalität und Phantasie gegen- und zueinander führt. Ihre manchmal zarten, manchmal stürmischen Melodien, die von einer echten Begabung zeugen, erfüllen die Kapelle des Internats, die bis auf den Flügel, der nur durch eine Stehlampe erhellt wird, im Dunkeln liegt. Täglich verbringen wir dort nach dem Unterricht viele Stunden. Während ich die Texte lese, spielt Isabelle dazu.
Wir beschließen, aus unserer musikalisch-literarischen Gemeinschaftsproduktion eine Schallplatte zu machen, was uns mittels Tonbandaufzeichnungen, die wir im Internat aufnehmen, und unter Inanspruchnahme eines Tonstudios, das die Bänder auf Schallplatte überträgt, auch gelingt. Ich schenke sie meiner Pflegemutter und meiner Großmutter. Wem Isabelle unsere Schallplatte geschenkt hat, weiß ich nicht.
Meine Freundin Isabelle hat einen Traum. Er kommt immer wieder. Am Morgen danach geht es ihr schlecht. Da ich gelesen habe, dass es gut sei, seine Träume aufzuschreiben, ermuntere ich sie dazu. Sie zweifelt daran. Am Ende bin ich es, die ihren Traum aufschreibt. Bewusst aufgehoben oder gar ordentlich abgeheftet habe ich die beiden eng beschriebenen Seiten nicht. Ich habe vergessen, dass ich sie besitze. Nun finde ich sie, wie so vieles, was in alten Kartons auf mich gewartet hat.
Der Traum: Isabelle ist in einem Sterbehaus. Es ist ein großer Saal, dessen Ende nicht zu erkennen ist. In scheinbar unendlichen Reihen stehen Pritschen. Auf jeder liegt unter einem weißen Laken ein Sterbender, einer ist ihr Vater. Über den Kopfenden der Pritschen hängen Spiegel. Die Wärter, die schweigend die Reihen abschreiten, blicken nicht in die Gesichter der Sterbenden. Sie blicken in die Spiegel. Sobald kein Atemhauch mehr deren Oberfläche trübt, wissen sie, dass der Tod eingetreten ist. Das Leintuch, das über den Körper ihres Vaters gebreitet ist, wird immer flacher. Isabelles Vater wird körperlos. Nur der Kopf und die Hände sind noch zu sehen. Der Kopf spricht mit ihr. Im Bett daneben liegt eine tote Frau, deren Schwester bei ihr ist. Die Tote und die Lebende sprechen den ganzen Tag miteinander und trösten einander mit den Worten: »Wir sehen uns wieder. Wir sehen uns wieder.« Der Kopf des Vaters sagt, seine Tochter solle den Schwestern zuhören. Sie hält die Hand des Vaters, bis diese sich allmählich auflöst. Als Isabelle ihre Finger spreizt, fallen die des Vaters hindurch.
Der Traum meiner Freundin ergreift von mir Besitz. Auch ich bin in einem Sterbehaus. Ich sehe mich selbst auf einer Pritsche liegen und beobachte mich im Spiegel, der schräg über meinem Bett hängt, ich sehe wie der Hauch, den mein Atem auf dem Spiegel hinterlässt, immer schwächer wird. Ich sterbe nicht, ich wache auf. Da ich in dieser Zeit oft Alpträume habe, vom Davonlaufenwollen, ohne von der Stelle zu kommen, von einer Tür, die ich nicht rechtzeitig schließen kann, um der Gefahr zu entkommen, von einem Brunnen, in den ich falle und der kein Ende nimmt, versuche ich, wenn schon nicht den Inhalt, so doch wenigstens das Ende meiner Träume zu bestimmen. Ich zwinge mich im Traum aufzuwachen. Es ist eine große Anstrengung. Wenn es nicht beim ersten Versuch gelingt, ziehe ich im Traum meine Augenlider mit Daumen und Zeigefinger hoch und wache auf. Im letzten Moment bin ich immer der Gefahr entronnen.
Ich rechne
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