Wie ein Haus aus Karten
ihren Söhnen Dirk und Holger hatte sie seit Jahren keinen Kontakt mehr. Nach Auskunft meiner ältesten Schwester Uschi hat sie versucht, ihre Söhne zu finden, die beide nach Berlin gezogen sind. Wie so oft in ihrem Leben gibt sie auf, noch bevor sie ihr Ziel erreicht hat.
Nach Julis Tod setzt meine Schwester Uschi die Suche fort und wird fündig. Bei Julis Beerdigung ist kein Mitglied der Neckermann-Familie, die ja auch einmal ihre Familie gewesen ist, anwesend. Die Pflegeeltern sind bereits tot, und die Stiefgeschwister Peter, Evi und Johannes sind nur durch einen Kranz vertreten. Am Grab meiner Schwester stehen ihre beiden Söhne Dirk und Holger, ihre beiden Schwestern Uschi und ich und ein paar Freunde ihrer letzten Jahre. Zwischen den wenigen Blumen und Kränzen liegt eine nicht zu übersehene Holztafel, auf der in Zierschrift steht: »Danke für Deine Scheißerziehung«. Holger hat sie für seine Mutter gemacht. Es kommt in seiner Sprache einer verspäteten Liebeserklärung gleich.
Erst Jahre nach ihrem Tod wird mir die Tragik, die ihr Leben von klein auf überschattet hat, in ihrer Unentrinnbarkeit bewusst. Nach dem Tod der Eltern, deren Nähe und Zuwendung Juli als Baby wie als zartes, kränkliches Mädchen schon zu deren Lebzeiten vermisst, wendet sich die Neunjährige der neuen Mutter im Überschwang kindlicher Zuneigung und Anpassungsfähigkeit zu. Sie möchte endlich ein richtiges Zuhause haben. Doch da erkrankt Juli erneut an Bronchialasthma und wird zusammen mit Evi in eine Klosterschule in den bayerischen Kurort Bad Reichenhall geschickt. Für meine Schwester kommt der erneute Ortswechsel einer Verbannung gleich.
Was sie dabei am tiefsten trifft, ist der plötzliche Verlust der neugewonnenen Mutter, in die sie alle Hoffnungen auf Nähe und Zärtlichkeit gesetzt hat. Als sie später erkennen muss, dass die ihrer Pflegemutter entgegengebrachte kindliche Liebe von Annemi nur halbherzig und nicht bedingungslos erwidert wird und ihre hochgespannten Erwartungen an die neue Familie sich nicht erfüllen, gerät ihr ohnedies labiles emotionales Gleichgewicht dauerhaft aus dem Lot. Ihr ganzes Leben lang sucht sie nach ihrer Identität, die in diesen Jahren zerbrochen ist.
Die Entwicklung meines Stiefbruders Johannes, der nach dem Abitur seinen Bachelor in den USA macht, verläuft dagegen zur Freude der Eltern in den erhofften Bahnen, auch wenn sie dem Verlobungswunsch ihres Sohnes mit Ingrun Möckel, einer ehemaligen Miss Germany, Miss Europa und ganz offiziell drittschönsten Frau der Welt, zunächst skeptisch gegenüberstehen. Niemand in der Familie hat etwas gegen die amtlich bescheinigte Schönheit der Auserwählten, wohl aber gegen den Ruf, der damit verbunden sein könnte. Dass Annemi und Necko dennoch zustimmen, ist ein gelungenes Beispiel für die rhetorische wie strategische Begabung meines Stiefbruders. Er erklärt, dass er Ingrun Möckel nicht heiraten, sich aber mit ihr vorübergehend verloben wolle, da dies in den USA , wo beide zu diesem Zeitpunkt leben, erforderlich sei, um seine Freundin nicht zu kompromittieren.
Als Johannes seine Verlobte schon bald darauf zum Traualtar führt, hat niemand mehr etwas dagegen einzuwenden. Die Hochzeit findet am 30. April 1966 im Frankfurter Dom statt. Ein Jahr, nachdem ich den Schulfreund meines Stiefbruders Johannes geheiratet habe. Es ist die letzte in einer langen Reihe von Hochzeiten, die alle im Schlosshotel Kronberg im Taunus ihren krönenden Abschluss finden.
Die Zeitschrift »Quick« hat die Exklusivrechte für die Berichterstattung erworben. Darin enthalten ist auch die Teilnahme am Polterabend und an der standesamtlichen Trauung, die in Bischofswiesen stattfinden. Unter der Überschrift »Über die Hochzeit der Schönheitskönigin Ingrun Möckel mit dem Versandhausprinzen Johannes Neckermann« wird, mit dem Hinweis, dass »Quick ganz private Fotos von der Drei-Tage-Hochzeit« zeigt, auf sieben Seiten berichtet. Wie in einem guten Fortsetzungsroman steht auf Seite 35 dieser Ausgabe der fettgedruckte Vermerk »Wie reich sind die Neckermanns? Bitte blättern Sie um!«. Der Leser, der dies tut, erfährt, dass 1965 im Frankfurter Versandhaus in dreißig Neckermann-Kaufhäusern, in 76 Verkaufs- und Auftragsannahmestellen, in zwei Lebensmittel-Supermärkten und vier Textilfabriken 1,2 Milliarden Mark umgesetzt wurden; dass 70 000 Bundesbürger im selben Jahr mit dem Neckermann-Reisedienst NUR in den Urlaub geflogen sind und 19 999 Kraftfahrer
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