Wie ein Haus aus Karten
landen in den Abfalleimern des Schlosshotels, und meine Schwester ist eher wütend als traurig und erklärt, sie habe Heinz ohnedies nicht geliebt.
Als Juli kurz nach der geplatzten Hochzeit Unitarierin wird und einen Glaubensgenossen heiratet, fühlen sich Annemi und Necko von ihrer Verantwortung der Pflegetochter gegenüber entbunden. Meine Schwester quittiert deren Reaktion kindlich-trotzig und sicher tieftraurig mit einer in Reimen verfassten Einladung zu ihrer schon kurze Zeit darauf stattfindenden Hochzeit, die mit dem Satz endet: »Ihr werdet es sehen, wir schaffen es schon!«
Was sie zunächst schafft, ist der endgültige Bruch mit ihren Pflegeeltern, der auch ein an mich gerichtetes Verbot zur Folge hat. Sie erlauben mir nicht, an Julis Hochzeit teilzunehmen. Da ich noch minderjährig bin, hätte ich mich daran zu halten, heißt es, wenn ich mich nicht der Gefahr eines endgültigen Rauswurfs aussetzen wolle. Ich halte mich daran, aber ich spüre, dass es Unrecht ist, beides: es von mir zu verlangen und es zu befolgen.
Ich entdecke einen Brief, den ich an Juli geschrieben habe. Er trägt kein Datum und muss, wie dem Schriftbild zu entnehmen ist, in großer Eile oder großer Unruhe verfasst worden sein. Ob mir das schwerleserliche Schriftstück nur als Vorlage für einen Brief gedient hat, den ich dann in Reinschrift übertragen an meine Schwester schicke, oder ob dieser Brief in meinem Besitz das Original ist und sie darum nie erreicht hat, weiß ich nicht. Der Inhalt dieses Briefes ruft eine fast vergessene, traurige Erinnerung in mir wach. Diesmal sind die Rollen vertauscht.
Es geht um meine Hochzeit, und es ist meine Schwester, die nicht daran teilnehmen darf. Die in beiden Fällen das Verbot aussprechen, sind unsere Pflegeeltern. Sie untersagen mir, die ich inzwischen volljährig bin, zwar nicht ausdrücklich, Juli zu meiner Hochzeit einzuladen. Ich sei, so argumentieren sie, frei zu tun, was ich für richtig halte. Sie erklären mir allerdings auch, dass sie nicht kommen würden, sollte ich mich gegen ihren Wunsch für die Anwesenheit meiner Schwester entscheiden.
Wenige Wochen vor meiner Hochzeit schreibe ich Juli: »Ich bin selbst wohl am traurigsten darüber, aber ich darf Dich nicht zu meiner Hochzeit einladen, wenn ich will, dass Mutti und Papi kommen. Ich weiß, dass es sicher keine schöne Hochzeit wird ohne Dich. Ich habe schon oft deswegen geweint.« Wieder fehlt mir der Mut, das zu tun, von dem ich fühle, dass es richtig ist. Die Angst, die Beziehung zu meinen Pflegeeltern zu gefährden, ist stärker. Meine erste Hochzeit, die einzige im Kreise der Familie, findet ohne meine Schwester Juli statt.
Deren Hochzeitskleid, das die Direktrice des Neckermann-Ateliers angefertigt hat, kommt Jahre später, wenn auch zweckentfremdet, doch noch zu Ehren. Ich trage es zum Debütantinnenball, der 1964 zum ersten Mal in Deutschland ausgerichtet wird. Ich bin eine der Töchter aus gutem Hause, die auf diese Weise in die Gesellschaft eingeführt werden. Die langen Ärmel des jungfräulichen Hochzeitskleides werden entfernt, der Ausschnitt vergrößert. Ich bin fast sechzig Jahre alt, als ich wieder daran erinnert werde. Mein Sohn Matthias findet auf der Suche nach unserer gemeinsamen Vergangenheit ein Album mit Zeitungsausschnitten, Fotos und einer umfangreichen Korrespondenz, das diesem Ereignis gewidmet ist. Bei diesem ersten Debütantinnenball der deutschen Nachkriegsgeschichte im Casino in Wiesbaden, der in der wirtschaftlich erstarkten Bundesrepublik die dazu passende Gesellschaft etablieren soll, wird nach dem Vorbild des Wiener Opernballs nichts dem Zufall überlassen.
Nur bei dem vorgeschriebenen Alter der Debütantinnen, das offiziell mit siebzehn bis zwanzig Jahren angegeben wird, hat man wohl nicht nur bei mir ein Auge zugedrückt, da sonst die erforderliche Anzahl an jungen Damen nicht zustande gekommen wäre. Ich bin damals zweiundzwanzig Jahre alt. Bei der Garderobe kann ich mithalten, denn niemand sieht meinem Ballkleid seine ursprüngliche Bestimmung an. Es ist, wie es das Regelwerk verlangt, bodenlang und weiß. Vorschriftsmäßig sind auch die weißen Seidenstrümpfe, die weißen Satinschuhe, die weißen, langen Handschuhe und das Strasskrönchen.
Fürstin Metternich fungiert als Schirmherrin des Abends wie auch der »Gesellschaft Vereinigung für Wohltätigkeit e. V.«, die zu diesem Zweck ein Komitee für Debütantinnen eingerichtet hat. Dem großen Abend geht ein mit einem
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