Wie ein Haus aus Karten
Lippen, die Kleider absteckt, serviert Klärchen Kaffee und Gebäck. Bei diesen Anproben dabei zu sein, bedeutet für mich Wohlgefühl und Nähe. Festzuhalten sind diese Empfindungen nicht. Sie verfliegen wie ein Luftzug, sobald sich die Schleiflacktür des Ankleidezimmers wieder öffnet.
In diesem Boudoir meiner Pflegemutter, das schon immer der beste Ort für heimliche Vorbereitungen und Bekenntnisse ist, mache ich mich für die kirchliche Trauung zurecht. Es ist mein Hochzeitstag und noch früh am Morgen. Meine Pflegemutter hat gerade die Spitzenhaube, die den Schleier hält, an meinen Haaren befestigt und macht sich daran, die neunundneunzig Knöpfe meines aus Brüsseler Spitze angefertigten Hochzeitskleides zu schließen, als mir Zweifel kommen. Zweifel, ob meine Wahl des Bräutigams die richtige ist. Ich zögere, ehe ich sie schließlich frage, ob sie denn an ihrem Hochzeitstag ganz sicher gewesen sei, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Annemi hält im Knöpfen inne und schaut mich an, erst überrascht, dann fragend. Ich fühle, ich bin ihr eine Erklärung schuldig, und füge hinzu, dass ich mir einfach nicht vorstellen könne, was es bedeutet, ein ganzes Leben mit einem Menschen zusammen zu sein. Sie sagt, dass es in der Ehe nicht um die große Leidenschaft gehe, sondern um Freundschaft, Vertrauen und Zuverlässigkeit. Das ist ihre Wahrheit, die sie jeden Tag aufs Neue lebt. Sie versucht mich mit den Worten zu beruhigen: »Ich bin ganz sicher, dass dich dein Mann nie verlassen wird.« Dass ich ihn verlassen könnte, kommt ihr gar nicht in den Sinn.
Noch aber ist es die Hochzeit meiner Schwester Juli, auf die die Familie wartet, nachdem diese bei ihren bisherigen Verehrern keine glückliche Hand bewiesen hat. Die potentiellen Ehekandidaten, die im Laufe der Jahre an ihrer Seite auftauchen, lassen, auch wenn zwei von ihnen einen Verlobungsring in der Tasche tragen, nicht auf eine längere Bindung hoffen. Julis Verehrer sind so unterschiedlich wie meine Schwester in der jeweiligen Phase ihres Lebens. Großmutter Brückner betrachtet Juli dann seufzend und meint: »Wenn sie erst mal den richtigen Mann findet, wird sie eine gute Ehefrau und Mutter.« Endlich glaubt meine Schwester ihn gefunden zu haben. Nennen wir ihn hier Heinz, an seinen Nachnamen kann ich mich ohnehin nicht mehr erinnern. Heinz sagt ja, und dies bereits wenige Wochen nachdem er ihr zum ersten Mal begegnet ist.
Noch nie ist in der Familie Neckermann eine Hochzeit so schnell beschlossen und geplant worden. Niemand äußert Bedenken bezüglich des Tempos, auch Annemi und Necko nicht. Der verständliche Wunsch, meine unberechenbare Schwester bald an der Seite eines Ehemanns berechenbar zu machen, ist stärker als die aufkeimenden Zweifel, das Ganze könnte doch etwas überstürzt sein.
Die Eheschließung meiner Schwester Juli soll wie die aller Kinder im Schlosshotel Kronberg im Taunus gefeiert werden. Das ist Neckermann’sche Familientradition. Die mehr als hundert Gäste sind eingeladen und befinden sich bereits auf der Anreise, das sechsgängige Menü ist bestellt, die Wachteln aus Italien sind bereits im Flugzeug nach Frankfurt und das mit Blütenapplikationen versehene seidene Hochzeitskleid hängt zum großen Auftritt bereit, da verschwindet Heinz, der Bräutigam, nachdem er meiner Schwester noch einen Brillantring an den Finger gesteckt hat, auf Nimmerwiedersehen.
Was Julis Hochzeit so kurzfristig hat scheitern lassen, wird nicht offiziell bekannt. Meine Schwester Uschi weiß es, und von ihr erfahre ich den Grund Jahrzehnte später, als ich mich bei meinen Recherchen mit ihr darüber unterhalte. Heinz, der Bräutigam, möchte nach den überstürzten Hochzeitsvorbereitungen noch ein ruhiges Wochenende allein mit seiner Braut verbringen. Annemi rät ihrer Pflegetochter Juli dringend davon ab. Sie ahnt Schlimmes. Meine Schwester hört nicht auf sie, und es kommt noch schlimmer.
Der strengkatholische und sichtlich konsternierte Bräutigam erklärt seinem Fast-Schwiegervater Josef Neckermann nach dem unheilvollen Wochenende in einer Unterredung unter vier Augen, er könne es nicht mit seinem Gewissen und seinem katholischen Glauben vereinbaren, Juli zu heiraten. Meine Schwester hat ihrem Bräutigam ihr bisheriges abwechslungsreiches Liebesleben gebeichtet. Die kurzfristig ausgeladenen Gäste, von denen die meisten bereits in Frankfurt eingetroffen sind, können nur noch kondolieren, statt zu gratulieren, die Wachteln aus Italien
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