Wie ein Haus aus Karten
sich bei der »Neckura« versichern ließen. Dass die schöne Schwiegertochter auch im Einsatz für den Umsatz ein Gewinn ist, hat sie schon ein Jahr vor ihrer Hochzeit als Titelmodell für den Neckermann-Katalog 1965 unter Beweis gestellt.
Im schmerzlichen Wissen um die späteren Ereignisse berührt es mich noch immer, als ich Jahrzehnte später diesen Zeitungsbericht in Händen halte und die Fotos betrachte: Ingrun und Johannes am Polterabend lachend das zerschlagene Geschirr zusammenkehrend, Ingrun auf dem Standesamt, das erste Mal ihren neuen Nachnamen Neckermann schreibend, das Brautpaar beim Anschneiden der fünfstöckigen Hochzeitstorte, Ingrun im Brautkleid aus fünfzehn Metern Brüsseler Spitze, und schließlich das Paar bei seinem letzten öffentlichen Auftritt dieses Tages, dem Weg in die Hochzeitssuite des Schlosshotels.
Johannes und Ingrun Neckermann bekommen drei Kinder, Markus, Julia und Lukas. Die ersten Jahre sind Bilderbuchjahre, dann beginnt die Entfremdung. Auch Annemi, die ihre Schwiegertochter wie kaum einen anderen Menschen in ihr Herz geschlossen hat, kann ihr, die zunächst ihre Ehe zu retten versucht, schließlich aber resigniert, nicht helfen. Meine Schwägerin Ingrun beschließt, nach fast zehn Jahren wieder die berufliche Selbständigkeit zu wagen und an ihre frühere Karriere als hochdotiertes Model anzuknüpfen. Das Portfolio, mit dem sie ihre Rückkehr ankündigt, zeigt eine Frau Mitte dreißig in unterschiedlichen Posen und Outfits, im Bikini auf dem Fahrrad, im Abendmantel neben einer schwarzen Limousine, im Sportdress mit Sonnenbrille und schließlich tanzend im Dirndl. Nicht nur die im Portfolio angegebenen Körpermaße überzeugen, sie ist noch ebenso schön und strahlend wie am Tag ihrer Hochzeit.
Glücklich ist sie damals nicht mehr, sosehr sie sich in ihrer bis dahin so strahlenden Lebensfreude auch bemüht, alles zum Guten zu wenden. Darüber aber wird in der Familie nicht gesprochen. Die Fassade wird nicht nur nach außen gewahrt, sondern auch untereinander. Jeder trägt seinen eigenen Schutzschild vor sich her. Die unverbindliche Freundlichkeit innerhalb der Familie lässt keine unkontrollierten Gefühlsausbrüche zu, auch keine offenen Auseinandersetzungen. Die Geschwister können sich ohnedies nicht untereinander helfen oder raten, denn für beides ist nur Annemi zuständig. Die Gespräche finden in der Regel unter dem Siegel der Verschwiegenheit in ihrem Ankleidezimmer statt.
Umso erfrischender ist es, wenn Annemis ältere Schwester Lieselotte, Lilo genannt, die nie ein Blatt vor den Mund nimmt, zu Besuch kommt. Sie ist das schwarze, wenn auch von ihrer Mutter besonders geliebte Schaf, welches jedoch das weiße, Annemi, noch heller erstrahlen lässt. Lilo ist weniger schön, weniger elegant und weniger damenhaft als ihre Schwester, dafür intelligenter, selbständiger und spontaner. Vor allem aber ist sie unkonventionell und unangepasst und gilt in der Familie als Enfant terrible.
Lilo ist meine Lieblingstante und eine der zahlreichen Verwandten, die Necko in der Firma anstellt. Sie wird Leiterin der Neckermann-Filiale in Stuttgart, wo sie meine Schwester Juli nach erneuten privaten wie beruflichen Fehlschlägen unter ihre Fittiche nimmt. Kommt Tante Lilo zu Besuch, ertönt ihre rauchige, rostige Stimme durchs ganze Haus. Als ich noch klein bin, klingt sie für mich geheimnisvoll und verworfen. Es ist eine Ahnung, die durch die eher distanzierte Haltung Annemis ihrer Schwester gegenüber noch verstärkt wird.
Tante Lilo heiratet dreimal. Ihr erster Mann, Kurt Apitz, ist Professor an der Charité in Berlin. Im Dezember 1943 wird er bei einem Fliegeralarm schwer, aber nicht lebensgefährlich verletzt. Er stirbt zwei Jahre später zusammen mit seinem Bruder und anderen Gästen eines Berliner Lokals, in dessen Weinkeller die Gruppe flüchtet, als Fliegeralarm gegeben wird. Die Weinfässer platzen durch den bei dem Luftangriff entstandenen Druck. Alle Menschen, die im Keller Schutz suchen, ertrinken im Wein.
Der zweite Mann meiner Tante Lilo ist ein Jugendfreund, der sie über diesen Verlust hinwegtrösten will. Erst lässt sie sich trösten und danach scheiden, als sie fühlt, dass sie ihn nicht lieben kann. Eine Scheidung hat es in der Neckermann-Familie seit Generationen nicht gegeben. Es ist ein Skandal. Ihr dritter Mann, Ullrich Bräuer, stellt ebenfalls ein Novum für die Familie dar. Er ist mehr als zehn Jahre jünger als seine Frau. Auch er arbeitet in der
Weitere Kostenlose Bücher