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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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Zertifikat abgeschlossener Tanzkurs voraus, nach dem die Paare nicht nur den Kaiserwalzer links herum beherrschen müssen, sondern die Debütantinnen auch die sogenannte große Referenz, eine Mischung aus dem Knicks meiner Kindertage und einer tiefen Verbeugung. Am Ende sind es sechzig Debütantinnen, die in unschuldigem Weiß in die Gesellschaft eingeführt werden. Eine davon bin ich, und ich schwebe mit meinem zukünftigen Mann übers Parkett.
    Der erste Debütantinnenball Deutschlands ist ein Medienereignis, doch er findet ein zwiespältiges Echo. Das Magazin »Stern«, in dem ich ernst und gefasst unter dem Titel »Der Ball der goldenen Töchter« eine ganze Seite einnehme, steht dem gesellschaftlichen Ereignis wohlwollend gegenüber. Die eher kritische Presse meint: »Die einen haben einen Namen, die anderen Geld.« Die Familie Neckermann kann sich inzwischen mit beidem schmücken.
    Die förmliche Einladung der Fürstin Metternich an meine Pflegeeltern, eine ihrer heiratsfähigen Töchter zum Debütantinnenball anzumelden, bestätigt deren stetig wachsenden gesellschaftlichen Status. Die förmlich angekündigte wie formlos abgesagte Hochzeit meiner Schwester Juli ist dagegen ein Rückschlag. Sie markiert aber auch das Ende der pflegeelterlichen Hoffnung, Julis weiteren Lebensweg beeinflussen zu können. Bei ihrer Ausbildung hätten sie es noch tun können, doch die Förderung der Begabungen und Interessen von Töchtern, der eigenen wie der angenommenen, steht nicht auf dem eher konservativen Neckermann’schen Erziehungsprogramm.
    Mit der Mittleren Reife von der Schule abgegangen, werden meine Schwester Juli und ihre Stiefschwester Evi ein halbes Jahr ins Ausland geschickt, um Fremdsprachen zu lernen. Evi geht in die USA , Juli nach Paris, wo sie sich unglücklich und wohl auch unpassend verliebt. Sie wird früher als vorgesehen und ohne Französischkenntnisse von den Pflegeeltern nach Frankfurt zurückbeordert. Danach versucht sich Juli als Mannequin auf Neckermann-Modenschauen und absolviert eine Schneiderlehre wie ihre ältere Schwester Uschi, ohne jedoch die Meisterprüfung abzulegen.
    Kurz darauf beschließt Juli, aufs Land zu ziehen. Dieses Intermezzo hat sich durch eine kleine Szene unauslöschlich in meinem Gedächtnis eingeprägt. Ich sehe sie vor mir in einem durchsichtigen orangefarbenen Minikleid. Sie steht in schwarzen Stöckelschuhen im Kuhstall eines heruntergewirtschafteten Bauernhofs in Heide bei Hamburg, den sie gerade gekauft hat, und ist fest entschlossen, Bäuerin zu werden. Ein Scheitern, wie auch in diesem Fall, erschüttert meine Schwester nur vorübergehend. Sie ist ohnedies immer auf dem Sprung. Schließlich macht sie eine Ausbildung zur Kindergärtnerin und arbeitet einige Jahre in diesem Beruf.
    Als ihr der Kindergarten samt Kindern zu anstrengend wird, physisch und psychisch, beschließt Juli, sich einer Landkommune im Raum Hessen anzuschließen, um dort auf dem Feld und in der Küche zu arbeiten. Aufkommenden Schwierigkeiten in dieser Wohn-, Arbeits- und Lebensgemeinschaft geht meine Schwester aus dem Weg, indem sie sich kurz entschlossen zur Altenpflegerin umschulen lässt. Als sie auch dieser Beruf zu sehr belastet, beginnt sie dank eines weiteren Umschulungsprogramms des Arbeitsamtes eine Tischlerlehre. Ihre selbstgeschnitzten Produkte verkauft meine Schwester auf dem Wochenmarkt einer hessischen Kleinstadt. In den letzten Jahren ihres kurzatmigen Lebens gibt sie Yogaunterricht.
    Ähnlich orientierungslos wirken die religiösen Eskapaden meiner Schwester. Sie tritt nach einer Phase tiefer Religiosität unter Protest aus der katholischen Kirche aus und wird Unitarierin, wie ihr damaliger Mann und Vater der Söhne Dirk und Holger. Danach wendet sie sich vehement Bhagwan zu, mit Leib und Seele und mit ihrem Geldbeutel, der am Ende dieser übersinnlichen Affäre leer ist. Als sie in ihren Erwartungen und auch sonst betrogen vom Hauptquartier des Gurus in Indien nach Deutschland zurückkehrt, ist meine Schwester, die ihre gesamte Garderobe orange und rot gefärbt hat, enttäuscht und desillusioniert.
    Kurz vor ihrem plötzlichen Tod am 26. November 1995 nimmt Juli wieder den katholischen Glauben an, rechtzeitig genug, um mit einer kirchlichen Beisetzung im Grab der Eltern und des Bruders in Würzburg bestattet zu werden. Meine Schwester hat ihren zweiten Herzinfarkt nicht überlebt. Sie muss im Schlaf gestorben sein. Zwei Tage liegt sie tot in ihrem Bett, ehe sie gefunden wird. Zu

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