Wie ein Haus aus Karten
Staatspolizei, Staatspolizeileitstelle München, bestätigt. Darin steht, dass das Reichssicherheitshauptamt die Auswertung des bei der Sektion der Görres-Gesellschaft sichergestellten Schriftwechsels über die Herausgabe dieser Abhandlungen angeordnet habe. Wörtlich heißt es: »Da das Reichssicherheitshauptamt Wert auf die gegnerische Stellungnahme zur nationalsozialistischen Gesetzgebung legt, bitte ich diese Dienststelle, unmittelbar über die politische Haltung der Verfasser zu informieren.« Einer der Verfasser ist Dr. Hans Lang.
Die Auswirkungen seiner nazifeindlichen Veröffentlichungen holen meinen Vater auch in Frankfurt ein. Da es ihm nie in den Sinn gekommen ist, klein beizugeben, beschließt er, die Juristerei an den Nagel zu hängen, nach Berlin zu ziehen und als Textilkaufmann Karriere zu machen. Gelernt hat er diesen Beruf nicht, doch das hindert ihn nicht, noch im selben Jahr eine Kleiderfabrik zu gründen, der er den Namen »Dr. Hans Lang und Co KG« gibt. Es ist die erste in einer Reihe von Firmen, die mein Vater in den folgenden Jahren ins Leben ruft.
In Berlin angekommen, lassen sich die Geschäfte gut an. Das ist der Moment, in dem Hans beschließt, für sich und seine Familie einen seinen Ambitionen angemessenen Rahmen zu suchen. Das herrschaftliche Landhaus im Kirchweg 27 thront auf der höchsten Erhebung eines mehr als 4000 Quadratmeter großen Geländes, das in Terrassen zur Rehwiese hin abfällt. Die Familie Lang, meine Eltern Hans und Mady und die beiden Ältesten Uschi und Mockel, zieht noch im selben Jahr, 1936, in die Muthesius-Villa ein. Auch meine Großmutter Neckermann ist zeitweise dabei. Später werden dort die beiden Nachzügler, meine Schwester Jula Margareta, Juli genannt, und ich, geboren.
Während sich meine Mutter um die Einrichtung kümmert, was bei der Größe des Hauses ein zeitraubendes Unterfangen ist, interessiert sich mein Vater vor allem für den Garten. Die Terrassen werden entfernt und stattdessen wellenförmige Hügel nach dem Vorbild englischer Gärten angelegt. Mein Bruder Mockel hat das Haus an der Rehwiese mit seinen Giebeln, Erkern und Türmen in einem Brief an seine Großmutter ein »Märchenschloss« genannt. Er selbst sieht aus wie ein Märchenprinz. Nur hat seine Geschichte kein Happy End.
Vor mir liegt eines der wenigen Fotos, das ich vom Haus an der Rehwiese besitze. Es ist auch das einzige Foto, auf dem mein Bruder Mockel und ich zusammen abgebildet sind. Die großen Fenster des Wintergartens geben den Blick auf einen blühenden Garten frei. Mein Bruder hockt im Schneidersitz auf dem Steinboden. Er trägt ein leichtes, kurzärmeliges Hemd und kurze Hosen. Seine schwarzen, vollen Haare sind wie bei seinem Vater nach hinten gekämmt, lange dunkle Wimpern verschatten ovale Augen, die unter dichten Brauen verträumt in die Ferne blicken. Vor ihm liegt auf einem bauschigen Damastkissen ein wenige Wochen altes Baby. Das bin ich. Das Foto ist im Sommer 1942 aufgenommen. Mein Bruder ist damals elf Jahre alt.
Die Familie hat gute und glückliche Zeiten im Haus an der Rehwiese verbracht, obwohl die meisten davon Kriegsjahre sind. Was in den Erzählungen meiner Großmutter auf mich den nachhaltigsten Eindruck macht, ist besagter Wintergarten mit den riesigen Panoramascheiben, die auf Knopfdruck im Boden versinken. Es ist ein einladendes, gastliches Haus und der Wintergarten Mittelpunkt vieler Feste. Meine Eltern lieben die Geselligkeit, sie lieben es, Freunde um sich zu versammeln. Meine Großmutter erzählt, dass sie selbst bei Fliegeralarm, während Bombengeschwader über den nächtlichen Berliner Himmel dröhnen, hinter zugezogenen Vorhängen Roulett spielen. Der Einsatz ist hoch. Mein Vater ist ein Spieler, nicht nur beim Roulett. Und meine Mutter spielt mit, ihr Leben lang.
Die fast gleichaltrigen Geschwister Uschi und Mockel haben sich in ihrem neuen Zuhause schon bald ihre eigene Welt geschaffen. Als meine Schwester sieben Jahre alt ist, bekommt sie, was sie sich immer gewünscht hat: einen Hund. Es ist ein Terriermischling, und sie nennt ihn Kora. Ist Kora läufig, rennen die Geschwister mit ihr über die Rehwiese, um Rüden anzulocken. Die kläffende Meute verfolgt die Hündin wunschgemäß bis in den Garten, wo die Geschwister jeden Hund an einem Baum festbinden. Dass dieses Schicksal schließlich auch einen Jungen aus der Nachbarschaft ereilt, weil den beiden für ihr Indianerspiel ein Feind fehlt, macht deutlich, dass die Kinder, ganz sich
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