Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
Vom Netzwerk:
auch nach mehr als einem halben Jahrhundert noch lebhaft an den Einzug der Amerikaner in Hofheim. Während die Soldaten durch das eine der beiden Stadttore einmarschieren, fährt mein Vater, von einer längeren Geschäftsreise zurückkehrend, durch das andere herein. Er ist in Hochstimmung und hat Geschenke für die ganze Familie mitgebracht. Noch am selben Tag betritt ein hoher amerikanischer Offizier die Apotheke. Er will Dr. Hans Lang sprechen. Die beiden Männer ziehen sich in das Arbeitszimmer meines Onkels Emil zurück. Am nächsten Tag geht mein Vater zum Rathaus. Als er wiederkommt, erklärt er seiner Familie, so als hätte er nichts anderes erwartet: »Alles in Ordnung. Ich bin entnazifiziert. Es wird keinen Prozess geben.«
    Der Gedanke, mein Vater könnte mit den Amerikanern kollaboriert haben, der mir während meiner Recherche gekommen ist, bestätigt sich nicht. In einer Antwort des U. S. Department of Justice, Federal Bureau of Investigation, vom Juni 2011 auf eine Anfrage meines Sohnes Lukas steht: »We were unable to identify responsive main file records.« Die Vermutung liegt daher nahe, dass der amerikanische Offizier ein in die USA ausgewanderter ehemaliger Bundesbruder gewesen sein könnte, der die Entnazifizierung im Sinne meines Vaters geregelt hat.
    Ob diese Vermutung stimmt und, wenn ja, ob meine Mutter davon wusste, sei dahingestellt. Sie möchte diese Ungerechtigkeit des Schicksals, das den eigenen Mann bevorzugt und den Bruder benachteiligt, so gut sie kann, ausgleichen. Madys Briefe dieser Jahre offenbaren ihren tiefen Wunsch, die schicksalhafte Verquickung unglücklicher Umstände wiedergutzumachen. Wie sehr sie sich verantwortlich fühlt, zeigt ein Brief an ihre Schwägerin Annemi, in dem sie die prompte Entnazifizierung ihres Mannes mit dem Satz kommentiert: »Ein Gutes hat es. Wir können nun arbeiten für euch alle.«
    Wenn meine Mutter ihren Bruder im Gefängnis besucht, übernimmt sie immer wieder die Rolle der Botin und Vermittlerin zwischen Josef und seiner Frau Annemi. Manchmal wird sie zur Trösterin. So schreibt sie an ihre Schwägerin, die mit ihren drei Kindern Peter, Evi und Johannes nach Gräfelfing bei München gezogen ist: »Wenn Josef Dich auch in der letzten Zeit vor Hetze und Geschäft arg vernachlässigt hat, so sind ihm in den letzten fünf Wochen [im Gefängnis] die Augen über sich und sein Leben aufgegangen. Es gibt nur einen Menschen auf der Welt für ihn, und das bist Du. Er hat so viel Zeit zur Selbstbesinnung, er will alles so ganz anders machen. Du sollst an erster Stelle stehen, die Kinder und nie mehr das Geschäft. Ganz neu und schön will er sein Leben mit Dir aufbauen.«
    Diese von meiner Mutter an ihre Schwägerin übermittelten Einsichten entspringen wohl eher ihrer optimistischen Grundhaltung als der Selbsterkenntnis ihres Bruders, auch wenn dessen Gefängnisaufenthalt kurzfristig zu neuen Einsichten geführt haben mag. Liest man die Briefe genau, so wird deutlich, dass nicht nur die Haft das junge Paar belastet. Annemi fühlt sich alleingelassen und mit den drei kleinen Kindern überfordert, und dies nicht erst, seit sich das Gefängnistor hinter ihrem Mann geschlossen hat.
    Sie findet Freunde, die ihr und den Kindern beistehen. Der rumänische Ingenieur Ilie Popescu ist einer von ihnen. Er ist von Bukarest nach München versetzt worden, um nach dem Krieg beim Aufbau des deutschen Eisenbahnnetzes zu helfen. Ilie Popescu liebt Annemi. Er ist intelligent, aufmerksam und musisch interessiert, und er liest ihr jeden Wunsch von den Augen ab, soweit das in dieser Zeit möglich ist. Kann er einen nicht erfüllen, ist er darüber trauriger als sie. Auch Annemi hat Ilie in ihr Herz geschlossen. Er gehört schon bald zur Gräfelfinger Familie. In ihren Briefen erwähnt meine Mutter immer wieder »Ilies unschätzbare Hilfsbereitschaft und Ergebenheit Annemi gegenüber«. Als Ilie Popescu nach Bukarest zurückkehren muss, hinterlässt er eine Leere in Annemis Herzen und der Familie das erste Pflegekind, seinen Landsmann Niko Hariton, der als Bergbaustudent nach Deutschland gekommen ist.
    Die aufopfernde schwesterliche Zuneigung, die Mady ihrem Bruder Josef entgegenbringt, wird von diesem nur halbherzig erwidert. Mein Pflegevater schreibt in seinen Erinnerungen, dass sich seine Schwester Mady vor allem immer besonders gut mit den Eltern verstanden habe und nach dem Tod des Vaters die Vertraute der Mutter geworden sei: »Mady genoss als Älteste und einziges

Weitere Kostenlose Bücher