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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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erhoffe. Dieser Beweis Deines Charakters ist mir wertvoller als das nun leider vergebliche Bemühen. Da Du aber nun das Jahr doch versäumst, erwarte ich, dass Du Dich dafür bemühst, in der Spitzengruppe zu bleiben.« Die Briefe des Vaters, die meist mit den Worten schließen: »Ich vermisse Dich und liebe Dich, Dein alter treuer Vater«, bedeuten meinem Bruder sehr viel. Er schreibt an seine Mutter: »Gestern kam Post von Vati. Ich war ganz stolz, dass er mir einen so langen Brief geschrieben hat.« Es ist einer der letzten Briefe meines Bruders aus dem Internat.
    Drei Wochen vor seinem gewaltsamen Tod erfüllt sich Mockels größter Wunsch. Die Familie feiert diesmal ohne die Hofheimer Verwandtschaft ihr erstes Weihnachten in der gerade bezogenen Baracke. Es existiert ein Gedicht meines Bruders zu diesem Anlass. Am Ende des in Schönschrift beschriebenen Blattes hat er eine kleine Tuschezeichnung gemalt, die die Baracke darstellt. Daneben steht »Weihnachten 1947 in Oberursel von Eurem Mockel«. Mein Bruder bedichtet das ersehnte neue Zuhause und schließt voller Freude: »So feiern wir heute, groß und klein/von Herzen glücklich/das erste Weihnachtsfest/in unserem neuen Heim.«
    Mein Bruder Mockel wird dieses Gedicht, in dem er all seine Lieben mit einem Vers bedenkt, am Heiligen Abend vorgetragen haben, bevor er es den Eltern überreicht. Es wird ein feierlicher Augenblick gewesen sein, und sicher haben die Eltern ihren Sohn fest in die Arme genommen, vor allem seine Mutter, denn nur sie weiß, welche Kraft ihren Ältesten dieses erste Jahr auf dem Internat gekostet hat.
    Nach Mockels Vortrag hat sich mein Vater vielleicht im ledernen Ohrensessel im Wohnzimmer niedergelassen und seinen Kindern die Weihnachtgeschichte vorgelesen. Dieses voluminöse Möbelstück, das sogar meinen stattlichen Vater klein erscheinen lässt, ist, wie der Platz am Kopfende des Esstisches, nur ihm vorbehalten. Darin macht er es sich auch bequem, wenn er, bevor er in die Firma geht, die Tageszeitung liest oder seiner Familie an seltenen Abenden aus dem Stegreif erfundene Geschichten erzählt, in denen sprechende kleine Monster mit ungeahnter Zauberkraft jede Menge Abenteuer bestehen und am Ende die ganze Welt retten.
    Mein Vater liebt es, wenn seine Tochter Juli auf seinen Schoß krabbelt und sich seine Großen, Uschi und Mockel, auf die dick gepolsterten Armlehnen setzen. Er ist ein Familienmensch. Zur Vervollkommnung der Idylle fehlt nur die Jüngste, doch die ist nicht zu bewegen, sich daran zu beteiligen. Wenn mein Vater versucht, um meine Zuneigung zu werben, soll ich ihn mit den Worten abgewiesen haben: »Ich mag dich nicht, weil du ein Mann bist.«
    Was mich damals zu dieser kategorischen Aussage veranlasst hat, kann ich nicht sagen. Fest steht, dass ich im Laufe meines Lebens Männern und ihrem Werben durchaus positiv begegne. Die ablehnende Haltung gegenüber meinem Vater ist wohl nur sporadisch aufgetreten, denn wie mir meine Großmutter später erzählt, habe auch ich seine Märchen geliebt. Sie hat ihren Schwiegersohn immer wieder gebeten, seine Geschichten aufzuschreiben. Er verspricht es, dazu gekommen ist er nicht mehr.
    Sosehr ich mir auch den Kopf zerbreche, kann ich doch nicht mit Sicherheit sagen, ob die nachfolgende Begebenheit eigenem Erinnern entspringt oder einer Erzählung meiner Großmutter Neckermann: Ich sehe mich im Krankenhaus. Mein Vater sitzt an meinem Bett und erzählt mir eines seiner Märchen. Das Gefühl, das ich dabei empfinde, ist warm und gut. Vielleicht ist dies ein Augenblick echten, eigenen Erinnerns, da der Gedanke daran für mich noch heute mit starken Emotionen verbunden ist. Auch bei einer anderen Begebenheit, an die ich mich zu erinnern glaube, ohne zu wissen, ob sie sich wirklich zugetragen hat, kommt ein Krankenhaus vor. Ich bin in einem Saal mit vielen Betten. In jedem Bett liegt ein Kind. In einem liege ich. Die Flügeltür zum Flur ist offen. Sie ist weiß und mit kleinen Glasfenstern durchsetzt. Eine Kordel ist davor gespannt. Dahinter stehen Eltern und winken ihren Kindern zu. Auch meine Mutter steht da und winkt. Als ich barfuß und weinend zu ihr laufe, bringt mich eine Krankenschwester zurück ins Bett.
    Jahrzehnte später finde ich einen Brief meiner Schwester Uschi vom 6. November 1947, der belegt, dass ich als kleines Kind schon zu Lebzeiten meiner Eltern oft und lang im Krankenhaus gelegen habe. Meine Schwester Uschi schreibt an ihren Bruder Mockel: »Die Aufregung kannst Du

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