Wie ein Haus aus Karten
mit meiner Mutter um den Haushalt und uns Schwestern kümmert. Mady ist jedoch viel mit ihrem Mann auf Reisen, und Mockel ist gar nicht mehr dabei.
Mein Bruder wird 1947 im Internat Schloss Bieberstein eingeschult. Die Eltern glauben, mit diesem Schritt die geistige Entwicklung ihres Sohnes zu fördern, die körperliche kommt dabei allerdings zu kurz. Alle Schüler und Lehrer des Internats leiden in dieser Zeit unter Hunger. Immer wieder drehen sich die Briefe meines großen Bruders ums Essen, genauer gesagt, den Mangel daran. Er schreibt: »Unsere ganze Bude hat Zusatzmarken beantragt, und wir bekommen sie jetzt: 3,5 l Milch, 250 g Nährmittel und 125 g Butter die Woche. Dreimal in der Woche gibt es außerdem Grießbrei. Das ist gut für unsere leeren Mägen.« Ein andermal berichtet er erleichtert: »Beim Mittagessen gab es für drei Leute eine ganze Schüssel Soße und eine Schüssel Kartoffeln und als Nachtisch Kirschen. Ich hatte achtzehn Stück.« Der Hunger muss meinem Bruder sehr zugesetzt haben. Hinzu kommt, dass es im Internat an Geld für Heizmaterial fehlt. »Es ist sehr, sehr kalt«, heißt es in einem seiner Briefe. »Ich versuche mich abzuhärten. Ich habe meinen nackten Oberkörper kalt gewaschen. Hoffentlich hilfts.« Allerdings nicht gegen den Hunger, denn er fügt hinzu: »Vom Duschen wird man furchtbar hungrig.« Und er träumt davon, »zu Hause mal wieder Hefeküchlein mit Birnen zu essen«.
Mockel schreibt jeden Tag aus dem Internat, und ist das Thema Hunger abgehandelt, erzählt er von den täglichen Begebenheiten. Er wünscht sich einen eigenen Tischtennisschläger, eine Lampe, einen Kocher, Glühbirnen, Nadel und Faden zum Stopfen, Filme. Er ist fest entschlossen, sich in der neuen Umgebung wohl zu fühlen. Leicht ist das nicht. Mein Bruder hat Heimweh. In fast jedem Brief zählt er die Tage bis zu den Ferien: »Gar nichts gefällt mir. Ferien möchte ich haben, sonst nichts.«
Der ausführliche und regelmäßige Briefwechsel zwischen meiner Mutter und ihrem Ältesten zeigt eine große Vertrautheit und Offenheit zwischen ihnen. Sie hat Verständnis für ihren heimwehkranken Jungen, aber sie erinnert ihn auch an seine Pflicht: »Jetzt heißt es wieder arbeiten, seine Pflicht tun und das mit Lust. Erst wenn Du Deine Arbeit mit innerer Zustimmung machst, nicht weil Du musst, sondern weil Du willst, macht sie Dich froh und zufrieden.« Mady betrachtet das, was ein Schüler zu tun hat, als Arbeit, setzt es gleich mit ihren Pflichten, und sie lässt ihren Sohn wie einen Erwachsenen auch an ihrem Leben teilhaben. Er sieht sich in einem Bund mit seinen Eltern. Überglücklich schreibt er seiner Mutter, dass er im Internat ein paar neue schwarze Schuhe für seinen Vater auftreiben kann, dessen Schuhgröße 44 nur schwer zu bekommen ist.
Das Heimweh überfällt meinen Bruder meistens dann, wenn er Langeweile hat, und er hat oft Langeweile. Er ist zwar der Jüngste, aber auch der Beste in seiner Klasse. Im Unterricht träumt Mockel von zu Hause. Schließlich beginnt er Strategien gegen das Heimweh zu entwickeln. Er schreibt: »In traurigen Momenten gebe ich kleineren Kameraden Unterricht, betreibe Privatstudien und schreibe an einem Kriminalroman.« Da ist er sechzehn Jahre alt. Doch sosehr sich mein Bruder Mockel auch um Ablenkung bemüht, immer wieder macht sich bei ihm die Sehnsucht breit und bei seiner Mutter die Sorge. Sie antwortet: »Diesen komischen Zustand nennt man Heimweh, das haben wir alle mal durchgemacht.« Der Ratschlag, mit dem sie ihren Großen aufmuntern will, klingt so, als würde sie ihn sich selber jeden Morgen geben: »Man nimmt sich schon beim Aufstehen vor, nicht schlechter Laune zu sein, seine Pflicht mit einem frohen Mut zu machen. Für dumme Minuten nimmt man ein Buch oder turnt oder spielt sich müde, dass alle Doofheit weggeblasen ist.«
Während ich Madys Briefe an ihren Sohn Mockel immer wieder lese, weil meine Mutter sie genau so an mich gerichtet haben könnte, die ich in meiner späteren Internatszeit zwar nicht den Hunger, wohl aber das Heimweh meines Bruders teile, versuche ich, ihr Leben in diesen Jahren nachzuvollziehen. Sie hat sicher gehofft, dass ihr großer, vernünftiger Sohn die Internatszeit gelassen hinnimmt. Sein Heimweh, sosehr sie es auch verstehen kann, bedeutet für sie eine Sorge mehr. Vielleicht ist Mady manchmal ungeduldig beim Briefeschreiben, Erklären, Ratschlägegeben und immer wieder Trösten. Ihre Sätze bringt meine Mutter oft nicht zu
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