Wie ein Haus aus Karten
Dir vorstellen, als Tini in die Klinik musste. Es muss einfach grässlich gewesen sein, wie das arme Wurm mit seiner Antipathie gegen Krankenhäuser geheult hat.«
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Die Erinnerung ist eine verwirrende Angelegenheit. Wie viele ebenso grandiose wie hilflose Texte habe ich darüber gelesen: poetische, philosophische und psychologische. Der kategorische Umgang Peter Handkes mit dem Erinnern, wenn er in Das Gewicht der Welt schreibt: »Schluss mit dem Erinnern. Ich will, dass es jetzt schön ist und nicht erst in der Erinnerung«, ist nicht mein Weg. Die Auseinandersetzung Monika Marons mit dem Vergessen in Pawels Briefen, einem Buch, das nach der Wende in der öffentlichen Meinung zu einem »Synonym für Verdrängen und Lüge« geworden ist, ist es auch nicht.
Für Monika Maron gibt es aber auch ein unschuldiges Vergessen. Und wie sie erlebe ich »die Willkür, mit der etwas über unser Wollen hinweg entscheidet, ob eine Erinnerung in uns auffindbar oder in den Kellern unseres Gedächtnisses für eine Zeit oder sogar für immer verschlossen bleibt«, als unergründlich und unheimlich. Dennoch: Bei meinem Versuch, eine persönliche Herangehensweise an meine verlorenen Erinnerungen zu finden, den Weg ihres allmählichen Auftauchens aus dem Vergessen nachzuvollziehen und schließlich ihr Gewicht zu bestimmen, haben mir diese Texte nicht helfen können.
Umso wichtiger ist es für mich, meiner Familie immer wieder von dem zu erzählen, was ich vom Hörensagen aus meiner Vergangenheit in die Gegenwart gerettet habe. Ich beobachte mich dabei, dass ich meinen Söhnen Matthias und Lukas in schillernden Farben von ihrem Großvater Hans berichte, ohne ihn jemals erlebt zu haben. Von ihrer Großmutter Mady erzähle ich nur selten. Sie ist erst allmählich in dem Maße, in dem ich ihre Briefe und Aufzeichnungen lese, meinem Herzen näher und schließlich ganz nah gekommen. Ich bin sicher, sie wird verstehen, dass ich meinem Vater verfallen bin, sie ist es ja auch.
Im liebevollen, großen Herzen meiner Mutter hat sich mein Vater häuslich eingerichtet, und es hängt von ihm ab, wie viel Platz darin noch für andere Menschen übrigbleibt. Die Kinder sind da nicht ausgenommen. Die Liebesrangordnung meiner Mutter ist unumstößlich, und mein Vater führt sie an. Meine Cousine Annemie Knab fasst es so zusammen: »Ein Muttertier ist Mady nie gewesen.« Auch meine Schwester Uschi hat sie nie richtig als Mutter wahrgenommen. Den Unterschied zwischen ihrer Mutter und deren Schwägerin Greta Knab erklärt sie als kleines Mädchen so: »Tante Greta ist eine Frau, meine Mutter ist eine Dame.«
Uschi wird die mangelnde mütterliche Zuwendung wohl erst bewusst, als ihr Bruder Mockel ins Internat kommt. Die mittlere Schwester Juli, die mit ihren blonden Locken, den blauen Augen und der ovalen Kopfform ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten ist, verbringt wegen ihres labilen Gesundheitszustandes zu viel Zeit in Erholungsheimen, als dass sich eine zärtliche Beziehung zwischen Mutter und Tochter hätte entwickeln können, und mir, der Jüngsten, bleibt nicht einmal die Erinnerung.
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Die ungewöhnliche Liebe meiner Eltern, die sich in kein gängiges, konventionelles Schema pressen lässt, hält allen Belastungen stand. Sie beginnt am 2. Februar 1927 und dauert einundzwanzig Jahre. Mady ist, als sie stirbt, neununddreißig Jahre alt, und sie erwartet ihr fünftes Kind.
Ich finde einen Brief meiner Mutter, der Ausdruck dieser bedingungslosen Liebe ist. Es steht, wie bei den meisten ihrer Briefe, keine Jahreszahl darauf, nur der Tag, der Monat und eine Zeitangabe: »13. Jan., spätnachts.« In ihrer große, geschwungenen Handschrift geht der Brief über sechs Seiten. In diesem Brief nimmt Mady Abschied von ihrem Mann, da sie glaubt, dass der Abend, an dem sie ihm schreibt, ihr letzter sein wird: »Du warst und bist der einzigste und liebste Mensch auf der Erde für mich. Ich wünsche herzlichst, auch Dich ein wenig glücklich gemacht zu haben in den Jahren unseres gemeinsamen Lebens, und wenn ich gehen muss, so danke ich Gott für das schöne Leben und gehe reich und befriedigt durch Deine Liebe, Deine Kinder, weg.«
In diesem Brief bittet meine Mutter ihren Mann, nicht um sie zu trauern: »Junge, lächelnde Augen sollst Du machen, die ich immer so geliebt habe, ein neues Leben mit festem, großem Willen aufbauen. Meine zwei lieben Kerlchen lege ich nun zurück in Deine Hände, erzähle ihnen später mal von mir. Ich habe sie beide
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