Wie ein Haus aus Karten
Wohnverhältnisse, das kleinbürgerliche Umfeld beginnen meinen Vater zu erdrücken, auch wenn er nicht oft am tagtäglichen Leben der Großfamilie teilnimmt. Er fühlt sich wie in einem Käfig gefangen und beschließt, sich in strategisch günstiger Lage im Main-Taunus-Gebiet in Oberursel niederzulassen. Er packt seine Familie und seine Direktrice Else Dieseler und startet mit dreihundertsechzig Stoffballen und fünfunddreißig Nähmaschinen im Gepäck in ein neues Leben. Ich trete diese Reise mit dem ersten Stofftier meines Lebens an, einem Dackel aus karierten und geblümten Stoffresten mit roten Schlappohren, den Frau Dieseler für mich genäht hat.
Mein Vater ist entschlossen, sein Unternehmen weiter auszubauen, neue Firmen zu gründen und reich zu werden. Zunächst erweitert er seine bisherigen Betriebe, die in Hofheim ansässigen »Textilunion Bekleidungswerke«, die für die Verarbeitung der Stoffe zuständig sind, und den »Dr. Hans Lang und Co. KG Versandhandel« im bayrischen Königsberg. Im stürmischen Aufwind der Nachkriegsjahre bekommen die Unternehmen meines Vaters Flügel. Da ein standesgemäßer Firmensitz geschäftsdienlich ist, erwirbt er eine klassizistische Villa am Schaumainkai in Frankfurt, in der sich heute das Deutsche Architekturmuseum befindet.
In einem Brief vom 9. März 1946 berichtet meine Mutter ihrem Bruder Josef zum ersten Mal von ihren Plänen, nach Oberursel zu ziehen: »Wir wollen versuchen, dort Wohnrecht zu erhalten. Mein Wunschtraum ist ja, dann eine Baracke aufzustellen. Die Sachen, die ich gerettet habe, würden auch fast ganz ausreichen. Mutti würde dann mit uns ziehen. Sie hat ja noch Möbel für ein eigenes Zimmer, und ich würde es ihr schon gemütlich machen.« Den ersten Brief nach dem Auszug aus der Apotheke in Hofheim schreibt meine Mutter am 20. Januar 1947 an ihren Sohn Mockel ins Internat. Bereits vor dem Umzug nach Oberursel haben die Eltern beschlossen, den Ältesten in ein Landerziehungsheim der Hermann-Lietz-Schulen nach Schloss Bieberstein zu schicken. Die vertrauensvolle Beziehung zwischen Mutter und Sohn findet ihre Fortsetzung in einem intensiven Briefwechsel. Mady schildert, wie sie in zwei bis unters Dach bepackten Autos mit den Kindern Uschi, Juli und Tini, den Hausmädchen Therese und Erna, meiner Großmutter Neckermann und einem sechs Wochen alten Schäferhund die Reise nach Oberursel antritt. Sie erwähnt aber auch, wie schwer der Abschied von Hofheim trotz aller Vorfreude auf das neue Zuhause fällt: »Wir waren ja immerhin vier Jahre da und waren da daheim. Das neue Daheim müssen wir uns noch erarbeiten.«
In Oberursel hat mein Vater ein riesiges Grundstück gegenüber einer Motorenfabrik gepachtet, in der zu dieser Zeit amerikanische Soldaten untergebracht sind. Kaufen kann er das von einem Bach mit Schleuse, einer Straße und einem Wäldchen begrenzte Gelände zu seinem Unmut nicht. Da 1947 für den Bau von Wohnhäusern von den Alliierten noch keine Genehmigungen erteilt werden, lässt mein Vater eine Baracke errichten. Von außen unauffällig, die Fassade aus schwarzgeteertem Holz, das Dach aus Teerpappe, ist sie von innen überraschend geräumig und hell. Zur Gartenseite hin zieht sich von einem Ende der Baracke bis zum anderen über mehr als dreißig Meter eine Terrasse, die von einem zur Wiese abfallenden Steingarten gesäumt wird, in dessen Mitte eine breite Treppe den Höhenunterschied überbrückt. An der Grenze des parkähnlichen Geländes steht ein riesiger alter Esskastanienbaum, dessen gewaltige Krone als Baumhaus dient und dessen mächtigen Stamm die Geschwister nur umfassen können, wenn sich alle an den Händen halten.
Der Flur, der in voller Länge durch die Baracke führt, ist schmal. Die einzelnen Zimmer, die davon abgehen, kann man dagegen in ihren Ausmaßen als großzügig bezeichnen. Der Essplatz ist das Zentrum des Familienlebens und besteht aus einer über Eck in die Wand eingebauten Holzbank mit einem langen Eichenholztisch davor. Das schmale Kopfende, der Stammplatz meines Vaters, wird von einem Kamel gekrönt. Die Kachel mit seinem Lieblingstier ist in die Wand eingelassen. Wenn mein Vater nicht da ist, bleibt sein Platz leer. Die Kachel besitze ich noch heute.
Die Familie Lang nimmt von der Baracke Besitz. Zum ersten Mal, seit sie ihr Haus in Berlin verlassen hat, ist sie wieder unter sich. Meine Großmutter Neckermann gehört ebenso dazu wie die im Alter rundlich und runzelig gewordene Therese, die sich zusammen
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