Wie ein Haus aus Karten
Ende, vielleicht weil ihre Gedanken vorauseilen oder weil sie durch die täglich an sie gestellten Anforderungen unterbrochen und abgelenkt wird. Dass ihre Briefe oft stilistisch unbeholfen und im Ausdruck unpräzise sind, hat aber wohl einen anderen Grund. Mady tut sich schwer, Gefühle in die richtigen Worte zu fassen. Manchmal scheint es, als ränge sie um jede Formulierung. Die Worte »blöd fühlen« und »Doofheit« als Umschreibung für Heimweh und Sehnsucht kommen häufig in ihren Briefen vor, so als hätte sie Angst, sie beim Namen zu nennen. Sie scheint sich vor dem Gewicht dieser Worte zu fürchten und versucht, die damit verbundenen Gefühle herunterzuspielen. Sie mag gehofft haben, dass auch Mockel sie dann nicht zu ernst nimmt.
In einem Brief meines Bruders wird deutlich, dass er nicht mehr am Religionsunterricht teilnehmen möchte, so wie auch ich mich später im Internat weigere, den Religionsunterricht zu besuchen. Beide setzen wir unseren Willen durch. Für meine Eltern, überzeugte Katholiken, stellt die Entscheidung meines Bruders ein Problem dar. Doch sie bleiben ihrer Haltung treu, ihre Kinder zu eigenverantwortlichen Menschen zu erziehen. Mein Vater, der für die offizielle Korrespondenz zuständig ist, richtet an den Heimleiter, Prof. Christiansen-Weniger, dazu folgenden Brief: »Der Wunsch meines Sohnes, nicht mehr am Religionsunterricht teilzunehmen, ist im Einverständnis mit mir geäußert worden. Es haben uns hierbei nicht enge, konfessionelle Überlegungen geleitet, sondern die Überzeugung, dass mein Sohn Hans auf einem solch gesicherten religiösen Fundament steht, dass der bei Ihnen übliche Religionsunterricht nicht dazu beitragen kann, die klare Linie seines Charakters und seiner Erziehung zu vertiefen, sondern eher die Gefahr in sich schlösse, Zweifel in diese klare Linie zu bringen. Außerdem ist es ein Grundsatz unserer Erziehung, in diesen Fragen die volle Entschlussfreiheit meines Sohnes nicht einzuengen. Ich bin der Meinung, dass diese Freiheit für die Charakterbildung wichtiger ist als jede an sich schätzenswerte Tradition. Mit der Versicherung meiner vorzüglichen Ergebenheit verbleibe ich …« Trotz der klaren Haltung, die mein Vater in dieser Frage einnimmt, versäumt er es nicht, seinem Sohn wenig später begeistert von einem Besuch der Wieskirche in Bayern zu berichten. Der Brief schließt mit dem Satz: »Diese Kirche zeigt uns, dass unsere Religion nichts Schweres und Bedrückendes, sondern etwas Erhabenes und Freudiges ist.«
Am Ende des ersten Internatsjahres klingen die Briefe meines Bruders selbstbewusster. Er interessiert sich für Politik, holt sich aus der Bücherei »alles, was ich bekommen kann, vor allem Bücher über die NS-Zeit«. Er möchte die »Neue Zeitung« abonnieren, ebenso die »Frankfurter Zeitung«. Und er bezieht regelmäßig die Zeitschrift »Film-Bühne«. Seine Lieblingsschauspielerin ist Katherine Hepburn. In einem weiteren Brief erzählt er, dass er auf eine Annonce geantwortet habe, in der das »Brockhaus-Konversationslexikon in sechzehn Bänden für 250 Mark« angeboten wird. Dass er die Bücher nicht für sich sucht, geht aus dem nachfolgenden Satz hervor: »Wenn ich sie bekommen kann, schreibe ich Vati die Adresse auf.« Die Bände gibt es noch heute, sie stehen in meinem Bücherregal.
Von meinem Vater finde ich eine Vielzahl von Postkarten, die er von seinen Reisen an seinen Sohn geschickt hat, aber nur wenige Briefe. Die meisten sind mit der Schreibmaschine geschrieben. Seine Schrift ist, im Gegensatz zu der meiner Mutter, winzig klein, spitz und kaum zu entziffern. Wenn mein Vater seinem Sohn in einer Zeit, in der die Not nah und das Ausland fern ist, von all den Reisen berichtet, die er nach dem Abitur mit ihm machen möchte – nach Ägypten, Südamerika, in die USA –, dann klingt das wie ein Märchen. Für meinen Vater ist das Realität, und er hält Mockel dazu an, Sprachen zu lernen. Er erwartet viel von seinem Sohn, und er hat viel mit ihm vor.
Als das Lehrerkollegium des Internats meinem Bruder nicht erlaubt, ein weiteres Mal eine Klasse zu überspringen, da er ohnedies der Jüngste ist, ist mein Vater verärgert. Der Brief an Mockel nach der endgültigen Absage des Rektors ist wie immer liebevoll, aber auch fordernd. »Ich bin wirklich sehr stolz auf Dich, dass Du den Mut hattest, noch einmal zu springen. Mit so viel Mut und so viel Energie wirst Du es bestimmt im Leben so weit bringen, wie ich es mir von Dir
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