Wie ein Haus aus Karten
Johannes, immer in Lederhosen und manchmal mit einem Tirolerhut auf dem Kopf, und ich, die Gleichaltrigen, nähern uns einander an, nachdem eine Mutprobe zu beider Zufriedenheit ausgefallen ist. Ich will meinem neuen Bruder beweisen, dass mein Kopf stark ist wie der eines Stiers, und dieser überprüft meine Behauptung, indem er ihn mit immer schwereren Büchern traktiert. Als die Erwachsenen einschreiten, behaupten wir beide, es habe Spaß gemacht.
Die neuen Geschwister überbieten sich im gemischten Familien-Doppel mit immer neuen Einfällen. Johannes und ich beschließen, betteln zu gehen. Er meint, er habe das mal auf der Straße in Gräfelfing gesehen und es sei ganz leicht, damit Geld zu verdienen. Aus der Wäschekammer holen wir alte Hemden, und zum Betteln ist sein Filzhut ohnedies geeignet. Nur den passenden Ort für unser Vorhaben zu finden, da es in der für Wohnhäuser noch nicht erschlossenen Umgebung an Nachbarn mangelt, fällt schwer. Schließlich stoßen wir auf einer kleinen Anhöhe gleich neben der Motorenfabrik auf eine Gastwirtschaft, in der nach der Ernte frischer Apfelwein ausgeschenkt wird. Diesen Ort halten wir für strategisch günstig und setzen uns auf die unterste Stufe der zur Wirtschaft hinaufführenden Steintreppe. Wir haben schon ein paar Zehnpfennigstücke im Hut, als Therese vom Einkauf zurückkommt und uns entdeckt.
Bei einem weiteren Versuch, sich selbständig zu machen, ist Johannes wesentlich erfolgreicher. Es ist Tradition in der Lang- wie der Neckermann-Familie, dass die Kinder an Weihnachten einen Kaufladen bekommen. Jedes Jahr steht er wieder frisch gefüllt unterm Weihnachtsbaum, und jedes Mal gibt es neben den Marzipanwürsten und -kartoffeln, den kleinen Päckchen Reis, Zucker, Kakao und all den Süßigkeiten, den bedruckten Tütchen zum Verpacken, den kleinen Schippen zum Einfüllen, etwas Neues, Besonderes. Eine Waage zum Beispiel oder eine Kasse und Kindergeld. Wir spielen in den Weihnachtstagen die ganze Zeit mit dem Kaufladen, denn in der Nacht der Heiligen Drei Könige ist er jedes Mal wieder verschwunden.
Johannes ist vom Kaufladenspiel besonders fasziniert und reißt das Unternehmen in kürzester Zeit an sich. Als meine Pflegemutter einschreitet und erklärt, der Laden sei für alle Kinder da, muss er das zwar akzeptieren, überzeugt hat es ihn nicht. Mein Stiefbruder baut sich aus ein paar Stühlen einen eigenen Laden und macht ein Konkurrenzunternehmen auf. Diesmal drückt nicht nur Annemi, die ihrem Jüngsten ohnehin nicht widerstehen kann, ein Auge zu, sondern auch Necko, der stolz erklärt, sein Sohn sei eben ein echter Neckermann.
Einmal in der Woche kommt der Eismann mit seinem blauweißen Eiswagen an der Baracke vorbei und läutet mit einer Blechglocke, die auf uns Kinder die gleiche Wirkung ausübt wie die Flöte des Rattenfängers von Hameln auf die Ratten. Wenn wir im Sommer bereits in unseren Hochbetten liegen, obwohl es draußen noch hell ist, springen wir auf und laufen barfuß und in Schlafanzügen auf die Straße. Dann hebt der Eismann vor unseren Augen den runden Metalldeckel des Eisbehälters, und wir dürfen einen staunenden Blick in dessen Tiefe werfen. Das Eis ist sonnengelb, denn der Eismann hat nur Vanilleeis im Angebot. Meine Liebe zu Vanilleeis stammt wohl aus dieser Zeit.
Therese, die uns bei unseren abendlichen Eisausflügen begleitet, wenn sie uns schon nicht davon abhalten kann, hat mir, wie mir meine Großmutter Jahre später erzählt, eine große, wenn auch ungewollte Enttäuschung bereitet. Ich möchte einmal im Leben eine Apfelsine essen und wünsche sie mir von Therese zum Geburtstag. Aus Unkenntnis verwechsele ich das Wort Apfelsine mit Rosine. Als es Therese tatsächlich gelingt, Rosinen aufzutreiben, und sie mir stolz die braunen, runzeligen Früchte in die Hand legt, soll ich in Tränen ausgebrochen sein. Den Silberpapierball an einem Gummiband, den sie, um mich zu trösten, aus Silberfolien von Schokoladentafeln, die uns die GIs in der Motorenfabrik gegenüber schenken, für mich gerollt hat, werfe ich weit weg. Ich bin untröstlich.
Meine älteste Schwester Uschi, die damals sechzehn Jahre alt ist, hat in diesem für sie konfliktreichen ersten Jahr in der neuen Familie mehr Grund, untröstlich zu sein. Sie ist es auch. Doch gerade in den schweren Jahren nach dem Tod der Eltern und des Bruders finden wir Schwestern keinen Halt aneinander. Uschi ist die Einzige, die ihre neuen Pflegeeltern von Anfang an bewusst erlebt
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