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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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beanspruchen. Der Ablösungsprozess wird zum Austauschprozess. Die neue Familie bringt andere Gesetze mit, andere Rituale, ein anderes Wertesystem: das System Neckermann.
    1949, meine Eltern und mein Bruder sind erst ein Jahr tot, entsteht auf der Terrasse in Oberursel ein Foto, auf dem eine große Familie zu sehen ist, aber es ist nicht mehr dieselbe. Neun Menschen sitzen auf den Treppenstufen, die den Steingarten, der zur Baracke hinaufführt, in der Mitte teilen. Oben im Bild ist meine Großmutter Jula Neckermann, den Kopf zur Seite geneigt. Ein Schatten fällt auf ihre Augen. Sie lächelt nicht. Den Arm hat sie um mich gelegt. Ich bin sechs Jahre alt, und auch ich lächle nicht. Neben meiner Großmutter, ganz außen, sitzt Peter Neckermann, das älteste der neuen Geschwister. Er hat die Hände um die Knie geschlungen und trägt eine Lederhose, die ihm nicht gefällt, aber besonders haltbar ist. Seine Augen sind zusammengekniffen, so dass sich auf seiner Stirn eine steile Falte bildet. Er hat sich von den übrigen Kindern distanziert, und daran sollte sich auch in Zukunft nichts ändern. Er ist der Große, der Außenseiter, der lieber mit seinen Schäferhunden als mit seinen jüngeren Geschwistern spielt.
    Dass keiner auf diesem Foto lächelt, fällt mir erst auf, als ich es immer wieder betrachte. Meine Schwester Juli blickt auf den Boden, und selbst mein gleichaltriger Stiefbruder Johannes, der Unbeschwerteste der Neckermann-Kinder, der noch als junger Mann Hanni genannt wird, verzieht keine Miene. Nur meine Stiefschwester Evi schaut vergnügt in die Kamera, sie hat ein Kätzchen im Arm. Meine Pflegemutter Annemi Neckermann sieht mit ihren langen lockigen Haaren nicht älter aus als ihre beiden großen Ziehtöchter, meine Schwester Uschi, die dekorativ das obere Ende der Treppe wie des Bildes markiert, und Sigrid Apitz.
    Sigrid ist das zweite Kind, das meine Pflegeeltern bereits Jahre vor uns aufgenommen haben. Annemi möchte Sigrids Mutter Liesel entlasten. Sigrid ist damals neun Jahre alt und kränkelt. Als sie mit in die Baracke einzieht, kränkelt sie nicht mehr und ist siebzehn. Dieses Foto hat dokumentarischen Wert. Es ist eines der wenigen Vorzeigefotos der neuen Großfamilie, das Necko für Veröffentlichungen freigibt.
    In seinen Lebenserinnerungen schreibt Josef über sein neues Zuhause: »Die Familie Lang hatte zusammen mit meiner Mutter und ihrem alten Hausmädchen Therese eine ehemalige Arbeitsdienstbaracke in Oberursel in der Nähe von Frankfurt bewohnt.« Dass es sich nicht um eine behelfsmäßige Unterkunft handelt, sondern um ein gut ausgestattetes, geschmackvoll eingerichtetes, großräumiges Heim, das meine Eltern in Form einer Baracke erbauen lassen, da die Alliierten zu diesem Zeitpunkt noch keine Genehmigungen für den Bau von Wohnhäusern erteilen, ist Neckos Beschreibung nicht zu entnehmen.
    In einer 1969 erschienenen Biographie gibt Necko eine weitere Version seiner Anfänge in Oberursel. Danach bewohnt er mit seiner Familie bereits die Baracke, die aber schon bald zu eng wird, »denn das Ehepaar Neckermann nahm – nach einem tödlichen Unfall eines nahe verwandten Ehepaares – dessen drei Kinder auf«. ***
    Der Grund für die unkorrekten Darstellungen meines Pflegevaters bezüglich seines Starts in Oberursel, der gleichbedeutend mit dem Beginn seiner Wirtschaftswunderkarriere ist, kann nur seinem Bemühen entsprungen sein, Spekulationen, er könnte von den Hinterlassenschaften seines Schwagers profitiert haben, im Keim zu ersticken.
    Es ist eine tragische Verquickung der Schicksalswege dieser beiden herausragenden Männer, dass Josef nach dem Unglück, das die Familie seiner Schwester trifft, beruflich wie privat in die Fußstapfen seines Schwagers und einstigen Rivalen tritt. Diesem Mann, den er seit der ersten Begegnung im Haus seiner Mutter als Konkurrenten empfindet, etwas schuldig zu sein, das kann Necko nicht zulassen. Nicht vor sich und nicht vor anderen.
    Dass mein Pflegevater und seine Familie die neue Bleibe wohl doch nicht ganz so abweisend gefunden haben, wird aus einem weiteren Zitat deutlich: »Für die Kinderschar«, schreibt mein Pflegevater, »war unser neues Heim ein kleines Eldorado.« Und er fügt hinzu: »Peter, Evi und Johannes sehnten sich ebenso wenig wie meine Frau und ich nach Gräfelfing zurück.« Von dieser Baracke aus beginnt Josef Neckermann nach seiner Entnazifizierung 1948 beruflich wieder Fuß zu fassen.
    Tatsächlich hält die Tragödie, die die

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