Wie ein Haus aus Karten
verlässt und nach Würzburg zieht. Meine Schwestern werden vor vollendete Tatsachen gestellt.
*** Carl Friedrich Mossdorf, Josef Neckermann – Weltmeister und Olympiasieger, München 1969, S. 31.
Dazwischen 5
Sie fuhren auf der Schnellstraße durch das nächtliche Paris, als vor ihnen das Hinweisschild »Paris Plage« auftauchte. »Sollen wir abbiegen?«, fragte der junge Mann, der den alten Volvo lenkte. Sie war ihm erst wenige Tage zuvor begegnet, als er im Museum Aufnahmen von ihrer Ausstellung gemacht hatte. »Sollen wir abbiegen und einfach ans Meer fahren?«, wiederholte der Fotograf seine Frage und sah zu ihr hinüber. Ihr gefiel die Idee, obwohl sie nicht wusste, ob sie ernst gemeint war. Vor allem gefiel ihr der Mann, wie sie sich mit einem verstohlenen Seitenblick in Richtung Fahrersitz vergewissern konnte. Auch wenn er nicht dem Typ entsprach, der bisher ihr Interesse erweckt hatte; der Mann hinter dem Lenkrad in den zu weiten grauen Jeans und der alten Fotoweste, in deren ausgebeulten Taschen Belichtungsmesser, Linsen, Objektive, Filme und Filter verstaut waren, faszinierte sie.
Seine langen, aschblonden Haare, die an den Schläfen zurückwichen, waren im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden, die Lippen voll und klar geschwungen und von einem Dreitagebart umrahmt, die buschigen Augenbrauen unter der hohen Stirn wirkten wie kleine, dichtbewaldete Hügel, unter denen seine ovalen, graugrünen Augen an Bergseen erinnerten. Sie hatten die gleiche Farbe wie die ihres Vaters und ihrer Großmutter.
Immer wenn die Straßenbeleuchtung sein Gesicht blitzartig erhellte, sah sie, wie der Mann lächelnd zu ihr herüberblickte. Nach den Anstrengungen, die hinter ihnen lagen, am Meer entlangzulaufen, den Sand zwischen den Zehen zu spüren, am Strand zu liegen und den Sternenhimmel zu betrachten, was für eine verlockende Vorstellung. Doch die Mitfahrer, befreundete Studenten, die sie für den Ausstellungsaufbau von Berlin nach Paris begleitet hatten, protestierten. »Lasst uns lieber ins Hotel gehen. Es war ein langer Tag«, sagte der eine, und der andere bekräftigte: »Meine Füße tun mir weh und mein Kopf auch.«
Es war tatsächlich ein langer Tag gewesen, der für die kleine Gruppe erst gegen Mitternacht endete, als sich die Flügeltür des Pavillon d’Arsenal nach einer rauschenden Ausstellungseröffnung hinter den letzten Gästen geschlossen hatte.
Durch ein Spalier langbeiniger junger Mädchen mit Mannequinmaßen, dunklen, langen Haaren und roten, enganliegenden Minikleidern, die mit dem Rot ihrer Lippen korrespondierten, betrat der damalige Oberbürgermeister von Paris, Jacques Chirac, unter dem Applaus der geladenen Gäste das Architekturmuseum der Stadt. Alles war so, wie er es angeordnet hatte. Eine Big Band spielte die von ihm gewünschten Glenn-Miller-Melodien, während sie selbst den hochkarätigen Ehrengast zu einer überdimensionalen weißen Papp-Pyramide führte, auf deren Stufen gefüllte Champagnergläser warteten.
Sie hatte für die französische Metropole unter dem Titel »Utopien für Paris« eine Ausstellung konzipiert, zu der international anerkannte Architekten aus der ganzen Welt architektonische Visionen entworfen hatten. Das Ergebnis, auf mehr als tausend Quadratmetern wie in einem riesigen Studio präsentiert, war ein Feuerwerk an Ideen und faszinierenden Entwürfen. Schon bei der Eröffnung stand fest: Die Ausstellung war ein großer Erfolg.
Im Zuge der Vorbereitungen hatten sich in den roten Locken der Frau einige graue Strähnen eingenistet, die ihrer Umwelt dank einer intensiven Henna-Behandlung verborgen blieben. Sie hatte sich wieder einmal auf ein berufliches Abenteuer eingelassen, ohne sich zuvor umfassend zu informieren, welche bürokratischen, juristischen und sonstigen Schwierigkeiten auf sie zukommen könnten. Mit dem, was dann kam, hätte sie ohnedies nicht rechnen können. Die Auseinandersetzungen mit der Direktorin des Architekturmuseums gipfelten darin, dass diese ihr erklärte, alle in der Ausstellung gezeigten Exponate seien von nun an Eigentum des Museums, wodurch folgerichtig auch die erheblichen Kosten für den Rücktransport in die Ursprungsländer der Architekten entfallen würden.
Da es für sie keinen Augenblick in Frage kam, die ihr von den Architekten anvertrauten Exponate in Paris zurückzulassen, musste sie sich selbst helfen. Am letzten Ausstellungstag fuhr sie mit einer von ihr beauftragten Spedition nach Paris, um die Fracht, riesige Kisten
Weitere Kostenlose Bücher