Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
Vom Netzwerk:
Walter, der die väterliche Kohlenhandlung übernommen hat, in finanziellen Schwierigkeiten steckt, kommt es zu einem ernsthaften Zerwürfnis zwischen Josef und seiner Mutter.
    Vor allem in den ersten Jahren nach dem Tod meines Vaters ist es für Necko wichtig, die Kontakte mit den ehemaligen Geschäftsfreunden und Mitarbeitern seines Schwagers aufrechtzuerhalten und auszubauen. Er braucht deren Wissen und Unterstützung gerade im Hinblick auf dessen undurchsichtige geschäftliche Transaktionen. Viele der ehemaligen Mitarbeiter meines Vaters bindet Necko in sein neugegründetes Unternehmen ein. Die Direktrice Else Dieseler, die mir zum Umzug nach Oberursel aus Stoffresten das erste Kuscheltier meines Lebens genäht hat, ist als Zeugin des teilweise entschwundenen väterlichen Vermögens ebenso unverzichtbar wie der inzwischen nach Brasilien ausgewanderte ehemalige Geschäftspartner meines Vaters Hans Eberhard Biermann. Dr. Burau, der mir in schillernden Farben die Eleganz meiner Mutter beschrieben hat, wird Pressechef der Firma Neckermann. Dr. Franz Hayler, der in seiner Funktion als Staatssekretär im Wirtschaftsministerium des Dritten Reiches sowohl mit meinem Vater als auch mit meinem Pflegevater kooperiert hat, wird Neckos Vertrauter und Freund der Familie.
    Meine Pflegemutter Annemi, unterstützt von meiner Großmutter und deren Haushälterin Therese, ist indes für den täglichen Ablauf in der Baracke zuständig und macht sich in dieser Zeit oft Gedanken über die Zusammenführung der beiden Familien. Mit Aufmerksamkeit verfolgt sie, wie die so plötzlich zusammengewürfelten neuen Geschwister miteinander auskommen. Es ist in diesem ersten gemeinsamen Jahr leichter, als sie zu hoffen gewagt hat. Annemi setzt alles daran, dass wir eine Familie werden, und sie ist fest entschlossen, es zu schaffen. Josef schreibt in seinen Erinnerungen: »Ich habe damals einmal wieder den Mut und die Entschlossenheit meiner Frau bewundert, die so zerbrechlich und zart wirkte und dabei ein unbändiges Bündel an Energie, Kraft und Durchsetzungsvermögen war.«
    Nur ein einziges Mal in ihrer erzieherischen Laufbahn muss Annemi, deren natürliche Autorität in der Regel ausreicht, um uns Kinder in Zaum zu halten, zu einer Maßnahme greifen, die sie später mehr bedauert, als dass sie uns geschadet hat. Wir vier Jüngsten, Evi, Juli, Johannes und ich, bekommen von ihr die erste und einzige Ohrfeige unseres Lebens. Wir haben den Wasserschlauch in den Sandkasten gelegt, um ein Schwimmbad daraus zu machen, und damit auch weite Teile des Gemüsegartens unter Wasser gesetzt.
    Beim ersten Kampf um die großen Steine im Terrassengarten, bei dem sich zwei Parteien bilden, die von Stein zu Stein hüpfen, ohne dass sie den Boden berühren dürfen, sind die Gruppen gemischt: Juli Lang und Evi Neckermann gegen Johannes Neckermann und mich. Auch der gemeinsame Protest gegen die Haarschneidemethoden meiner Pflegemutter, die, um Zeit und Geld zu sparen, den vier Jüngsten einem nach dem anderen einen Kochtopf über den Kopf stülpt und darum herum schneidet, macht die neuen Geschwister zu Verbündeten.
    Symbolischer Höhepunkt der gegenseitigen Anerkennung ist die Hochzeit, die die vier Kleinen, wie wir genannt werden, im Schuppen neben der Baracke feiern. Wie es zur Wahl des Brautpaars gekommen ist, weiß ich nicht mehr. Schließlich treten meine Stiefschwester Evi und ich vor den Traualtar. Evi ist der Bräutigam, weil sie die Ältere von uns beiden ist. Johannes ist der Pfarrer, und Juli besteht darauf, dann wenigstens bei der Taufe die Hauptrolle zu spielen. Die Kinderhochzeit, die auf einem Foto festgehalten ist, hat bei Annemi unter den damaligen Umständen sicher eine ähnliche Rührung hervorgerufen wie eine kirchliche Eheschließung bei echten Brauteltern.
    Ich finde einige engbeschriebene Heftseiten. Dass sie von mir stammen, ist an der Handschrift zu erkennen. Von wann der Text ist, lässt sich nicht feststellen, auch wenn aus ihm hervorgeht, dass er nach dem Tod meiner Eltern entstanden ist. Die Geschichte, die in mehrere Kapitel gegliedert ist, trägt den Titel »Kinderhochzeit in Oberursel«. Der Text beginnt mit der Beschreibung der Familie: »Eines Tages waren wir plötzlich sieben Kinder. Tante und Onkel waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und unsere Eltern haben ihre Kinder zu uns geholt.« Es hätte so sein können, aber so ist es nicht. Nur in meiner Geschichte liegt das Schicksal in meinen Händen.
    Mein Stiefbruder

Weitere Kostenlose Bücher