Wie ein Haus aus Karten
und bewusst ablehnt. Als ich sie Jahrzehnte später danach befrage, erinnert sie sich an einen Aufenthalt im Gräfelfinger Haus ihres Onkels Necko und ihrer Tante Annemi, wie sie diese zu Lebzeiten der Eltern nennt. Sie muss dort zusammen mit ihrem Bruder Mockel einige Wochen verbringen. Mady hat die Ältesten zu ihrer Schwägerin gebracht, weil ihre Mutter, meine Großmutter Neckermann, bei einem Autounfall lebensgefährlich verletzt wird und sie die Pflege selber übernehmen möchte.
Uschi ist damals acht Jahre alt, und sie kommt in eine Welt, die sie nicht versteht. Plötzlich ist alles anders, alles geregelt, der Tagesablauf vorgeschrieben. Einen größeren Gegensatz zu ihrem Elternhaus kann es für sie nicht geben. Mockel, Uschi und die Neckermann-Kinder Peter und Evi, Johannes ist noch nicht geboren, essen nicht zusammen mit den Erwachsenen, sondern im Kinderzimmer. Peter und Evi bekommen während der Mahlzeiten nichts zu trinken, da es nicht gesund sei. Evi, die schon damals eine schlechte Esserin ist, den Teller aber leer essen muss, entwickelt große Geschicklichkeit darin, die zerkaute Nahrung, die sie nicht hinunterschlucken kann, in den Backentaschen zwischenzulagern. Es wird später immer wieder kolportiert, auch von Annemi, die während des für die Kinder vorgeschriebenen Mittagsschlafs mit gekrümmtem Zeigefinger die Essensreste aus dem Mund ihrer Tochter holt.
Von einem weiteren Besuch bei den Neckermanns schreibt Uschi am 1. Januar 1947 an ihrem Bruder: »Die Kinder sind alle sehr lieb. Leider aber sehr streng erzogen.« Uschi erinnert sich auch an eine Nikolausfeier, bei der Onkel Necko den Nikolaus spielt. Sie ist das einzige der Kinder, das weiß, wer sich unter dem roten Umhang und dem langen weißen Bart verbirgt. Nicht so Evi. Als der Nikolaus mit verstellter, polternder Stimme ihr Sündenregister aufzählt, das schreiende und sich wehrende Mädchen in den Sack steckt und aus dem Zimmer trägt, ist es im Sack plötzlich totenstill. Die Erwachsenen springen auf und stürzen hinter dem Nikolaus her, um ihm die Beute zu entreißen. Sie befürchten, Evi könnte vor Schreck der Schlag getroffen haben.
Als meine Schwester Uschi erfährt, dass Tante Annemi und Onkel Necko ihre neuen Eltern werden, ist sie entsetzt, aber nicht verzweifelt. Als Tochter ihres Vaters hat sie gelernt, sich durchzusetzen. Sie will nicht klein beigeben. Und sie nutzt die erste Gelegenheit, die sich ihr bietet, das klarzustellen. Uschi ergreift Partei für Therese, die mit ihren sechzig Jahren den großen Haushalt versorgt, als diese von ihrer neuen Chefin getadelt wird. Als Annemi bemängelt, dass die Kartoffelklöße nicht gut gelungen seien, springt meine Schwester auf und schreit ihre Pflegemutter an: »Therese hat die Knödel immer so gemacht, und sie sind gut so!« Die Selbständigkeit und das ausgeprägte Selbstbewusstsein der Ältesten sind sicher nicht leicht für Annemi. Sie muss sich bei ihr durchsetzen, will sie die ganze Familie in den Griff bekommen.
Als ihr meine Schwester zudem erklärt, sie werde am nächsten Tag nicht zur Schule gehen, da eine Lateinarbeit ansteht, greift Annemi zum ersten Mal durch. Uschi geht in die Schule und schreibt eine Eins. Ein Beweis, so scheint es, für einen pädagogischen Erfolg der Pflegemutter. Er hält nicht lange an. Es kommt zu einem weiteren Gespräch zwischen ihr und meiner Schwester Uschi, in dessen Verlauf Annemi deutlich macht, dass die Geschwister getrennt würden, wenn sie sich nicht unterordne. Sie erklärt der Fassungslosen, dass es allein von ihrem Verhalten abhänge. Die Verantwortung wiegt schwer für die Sechzehnjährige. Uschi gibt nach.
Meine Schwester Uschi hätte gern Abitur gemacht und wie ihr Vater Jura studiert. Sie ist ungeachtet der tragischen Ereignisse Klassenbeste geblieben. Der Schulrektor versucht den Pflegevater davon zu überzeugen, seine begabteste Schülerin nicht vom Gymnasium zu nehmen. Er kann sich nicht durchsetzen und Uschi auch nicht, weder mit dem Abitur noch mit dem Studium. Sie wagt einen letzten Versuch und schreibt ihrem Pflegevater einen langen und, wie sie sich erinnert, herzzerreißenden Brief, der jedoch das Herz des neuen Familienoberhaupts nicht erweicht. Meine Schwester Uschi muss das Gymnasium mit der Mittleren Reife verlassen, beginnt eine Schneiderlehre und wird Schneidermeisterin. Auch mein ältester Stiefbruder Peter muss zunächst mit der Mittleren Reife von der Schule abgehen und eine Lehre machen, kann aber, als
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