Wie ein Haus aus Karten
schief auf dem Schoß meines Pflegevaters, dass der Eindruck entsteht, ich würde gleich in all meiner Pracht, dem neuen Taftkleid mit Spitzenkragen, von seinen Knien rutschen. Die übrigen Familienmitglieder sind um ihn herum drapiert. Auf der linken Armlehne sitzt Annemi im gemusterten Seidenkleid mit Orchidee am Kragen. Sie wirkt noch immer jünger als ihre älteste Pflegetochter Uschi, die in der Reihe hinter Evi und Juli steht. An Annemis Seite ist ihr Sohn Johannes in seinem Kommunionsanzug, brav mit weißem Kragen und Bolerojacke über einer grauen Latzhose aus Flanell, hinter ihr ihr Ältester, Peter, der alle überragt. Das Foto zeigt eine glückliche, erfolgreiche Familie, die die Hoffnung vieler Deutscher, das Elend der frühen Nachkriegsjahre durch Arbeit, wirtschaftlichen Erfolg und damit Wohlstand vergessen zu machen, teilt. Nur diese Familie ist erfolgreicher als andere.
Der Einzug in die neue Firmenzentrale ist auch der Moment, in dem Necko sein erstes Fernsehinterview gibt. In der Chefetage im dritten Stock werden Schienen in dem gerade bezogenen Arbeitszimmer meines Pflegevaters verlegt, auf denen die Fernsehkamera lautlos auf den hinter seinem Schreibtisch sitzenden Firmengründer zufährt. Hinter einer Ecke versteckt, beobachte ich, wie das sonst blasse Gesicht meines Pflegevaters von fachmännischer Hand mit einem rosa Schimmer überzogen wird, während er sich immer wieder mit der Zunge über die vor Aufregung trockenen Lippen fährt. Diese erste Fernsehaufzeichnung ist wichtig für Necko und sein Unternehmen. Er macht seine Sache gut, was ihm in zahllosen Anrufen nach der Sendung bescheinigt wird. Das Lampenfieber meines Pflegevaters vor Fernsehauftritten legt sich im Laufe der Jahre, als er Routine gewinnt, merklich, aber ganz verschwindet es nie. Er kompensiert es mit einem liebenswürdigen, fast starren Lächeln, das er sogar beim Sprechen beibehält, und einer sanften, monotonen Stimme, mit der er sein Gegenüber, gelegentlich auch seine Gegner, paralysiert wie die Schlange das Kaninchen.
Damals wird noch für eine große, unzertrennliche Familie geplant, selbst wenn sie da, wie Necko in seinen Erinnerungen schreibt, schon »nicht mehr vollzählig« ist: »Meine Mutter hatte es nach Würzburg in ihre Heimat zurückgezogen. Tini, das Nesthäkchen und ihre Lieblingsenkelin, ging mit. Juli war an Bronchialasthma erkrankt und brauchte bessere Luft. Damit sie nicht auf Evi verzichten musste, an der sie sehr hing, schickten wir die beiden zusammen auf eine Klosterschule in Bad Reichenhall.«
Zum ersten Mal nach den unsicheren Verhältnissen in Gräfelfing, wo Annemi und ihre drei Kinder in ein leerstehendes Haus eingewiesen werden, während Necko noch im Gefängnis sitzt, nach dem Umzug nach Oberursel und der Neuorientierung durch den Zuwachs an Pflegekindern kann Annemi ihre neue Lebensumwelt mit zwar nicht unbegrenzten, aber doch ausreichenden finanziellen Mitteln gestalten. Die Wohnung am Ostbahnhof ist diesbezüglich ihr erstes größeres Betätigungsfeld. Im Oktober 1951 zieht die Familie ein. Der offizielle Eingang zur Wohnung liegt im vierten Stock, der für die Dienstmädchen im fünften. Den benutzen auch wir Kinder, wenn wir zu später Stunde unbemerkt nach Hause kommen wollen. Jedes hat ein eigenes Zimmer: die drei leiblichen Neckermann-Kinder Peter, Evi und Johannes, meine Schwester Juli, ich und auch Niko Hariton, der Älteste von uns, der bereits in den Gräfelfinger Jahren zum Pflegesohn avanciert ist.
Das Zentrum des Wohntrakts im vierten Stock bildet ein riesiger Raum. An der einen Seite befindet sich ein auf die Großfamilie zugeschnittenes, um die Ecke gehendes eingebautes Sofa, das an einen Blumenerker grenzt, der von einer Natursteinmauer eingefasst wird. Dem Sofa gegenüber schwingt sich eine ausladende Treppe in den oberen Stock. Darunter ist ein offener Kamin. Die Sesselgruppe vor dem Kamin ist der Ort seltener gemütlicher Zusammenkünfte und regelmäßiger vorweihnachtlicher Leseabende, die in der Regel von Annemi bestritten werden. Es gibt zwei Bücher, an die ich mich aus dieser Zeit erinnern kann. Das eine enthält Weihnachtsgeschichten von Heinrich Waggerl, bei denen alle um die Krippe versammelten Tiere zur Freude meiner Pflegemutter nicht nur menschliche Züge tragen, sondern auch mit dem Christkind in der Wiege sprechen können. Das andere Buch, das mir besser gefällt, weil es etwas zu lachen gibt, ist Pu, der Bär .
Necko hat ein Lebensmotto, das er allen,
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