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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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unserer Freundschaft ist aus solidem Material. Es würde auch den Sturz überdauern, ihn jedoch nicht verhindern.« Und er fährt fort: »Du meinst, ich würde Dinge aus Vorsicht oder aus Angst tun, um den Sturz in diesem oder jenem Sinne zu verhindern. Wenn Du dies sinngemäß zu Ende denkst, widerspricht das völlig unserem inneren Verhältnis zueinander.«
    In seinem letzten Brief schreibt Hermann: »Unsere Freundschaft wird niemals aufhören zu bestehen, solange noch einer von uns da ist.« Dann fügt er in verändertem Ton hinzu: »Den Vergleich mit dem Absturz in meinem letzten Brief hast Du offensichtlich nicht so ernst genommen wie ich. Ich habe für wache Ohren viel damit zum Ausdruck gebracht, worüber ich nie zu reden pflege.« Der Brief schließt mit dem Satz: »Ich werde niemals stürzen, jedoch wenn man abstürzt, ist man tot.« Das Wort »ich« und das Wort »man« sind unterstrichen. Ich hatte damals keine wachen Ohren, sonst hätte mich das, was dann geschieht, nicht ahnungslos getroffen. Vielleicht hätte ich es sogar verhindern können. Er hat es mir ja angekündigt.
    Im Herbst 1960 stürzt Hermann in den Dolomiten ab. Er zerschellt an einem Felsen. Die Angehörigen dürfen den Sarg, der aus Italien überführt wird, nicht mehr öffnen. Ich besitze ein Foto meines Freundes Hermann, das mir sein Bruder nach der Beerdigung gegeben hat. Es zeigt ihn auf der Spitze eines Berges. Er hat das Lächeln eines Siegers.
    Unsere letzte Begegnung vor seinem Tod ist anders als alle zuvor. Als wir in seiner Hütte auf den beiden ausrangierten Sofas liegen, nimmt er meine Hand, während er sich zu mir dreht und mich küsst. Es ist ein sanfter Kuss. Ich wage nicht, mich zu rühren. Ich fürchte, es könnte nur ein Traum sein.
    Vom Tod meines Freundes Hermann erfahre ich in Frankfurt von meiner Pflegemutter. Für meine Tränen hat sie kein Verständnis. Ich fahre nach Würzburg zur Beerdigung. Das Grab von Hermanns Familie auf dem Würzburger Hauptfriedhof liegt ganz in der Nähe des Lang’schen Familiengrabes. Meine Großmutter Neckermann und meine Schwester Juli begleiten mich. Meine Großmutter möchte nicht, dass ich weine, und verabreicht mir Baldriantropfen. Ich werfe eine weiße Nelke ins Grab und das Gedicht über die Freundschaft, das ich für Hermann geschrieben habe und das ich ihm nicht mehr selbst geben kann. Eher ermüdend als erbaulich drückt es in ungelenken Versen ein Gefühl aus, dessen Intensität ich bis dahin nicht gekannt habe.
    Nach Hermanns Beerdigung bleibe ich während der Ferien noch bei meiner Großmutter. In unserem Häuschen bin ich nur selten. Die Freunde meiner Kindheit holen mich jeden Abend zu einem anderen Weinfest in den Winzerorten der Umgebung ab. Zur Musik der einheimischen Blaskapellen tanze ich bis zur Erschöpfung. Wenn ich mich gegen Morgen in das Schlafzimmer meiner Großmutter schleiche, in dem noch immer mein Bett steht, ziehe ich die Decke über den Kopf und weine mich in den Schlaf.
    Eines Nachts, als ich wieder leise vor mich hin weine, setzt sich meine Großmutter an mein Bett und sagt: »Ich wusste nicht, dass du Hermann so liebgehabt hast!« Und sie fügt hinzu: »Trauer hat viele Gesichter, man muss sie nur erkennen.«
    Kurze Zeit später überreicht mir Hermanns Stiefvater einen Brief, den Hermann im Falle seines Todes für mich hinterlassen hat. Darin steht, dass er mich immer lieben werde, aber keine Chance für uns sehe, weil er aus ganz anderen gesellschaftlichen Verhältnissen komme. Er sei meiner nicht wert.
    Da ich ins Internat zurückmuss, vertraue ich den Brief meiner Pflegemutter mit der Bitte an, ihn gut für mich aufzubewahren. Als ich ihn später wiederhaben möchte, ist er nicht mehr da. .

Dazwischen 6
    Sie saß in Buenos Aires in einer Suite des Grandhotels »Conquistador« im Zentrum der Stadt. Ihr war kalt, und das lag nicht allein an den klimatisierten Räumen. Tatsächlich war sie ratlos. Ihr blieben nur noch zwei Tage bis zum Rückflug nach Berlin. Zusammen mit ihrem späteren vierten Mann, dem Fotografen, mit dem sie seit der nächtlichen Fahrt durch Paris nicht nur gemeinsame Buchprojekte verbanden, sondern auch eine für beide ebenso überraschende wie beglückende Liebe, war sie einer Einladung zur Architekturbiennale nach Buenos Aires gefolgt. Diese Reise sollte sie ihrem gemeinsamen Ziel, ein Buch über den argentinischen Architekten und Künstler Clorindo Testa zu veröffentlichen, ein Stück näher bringen. Er als Fotograf, sie als

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