Wie ein Haus aus Karten
im Hintergrund, und auch ihre Kinder hält sie konsequent von der Öffentlichkeit fern. Im Umgang mit den Medien bleibt meine Pflegemutter zurückhaltend bis verschlossen. Sie will keine Person des öffentlichen Interesses sein. Und obwohl Necko als Medienprofi grundsätzlich anderer Ansicht ist, akzeptiert er die Haltung seiner Frau ohne größere Überzeugungsversuche.
Markige Sprüche wie »Die Familie war das Unternehmen, das Unternehmen die Familie« stammen allerdings nicht aus der Feder seiner Frau Annemi, der jedes Pathos fremd ist, sondern von Necko, der große Worte nicht scheut. So erinnert er sich, sie seien »geradezu besessen von der uns gestellten Aufgabe« gewesen, »daran mitzuwirken, die Klassenunterschiede einzuebnen«. Ein Thema, das in Necko womöglich die Ängste seiner Jugend wachruft, als er sich aufgrund seiner nichtakademischen Ausbildung vom »Gespenst der Deklassierung« bedroht fühlt. Jetzt setzt er seine Erfahrung von damals gezielt für seine Werbestrategie ein, wenn er seinen Kundinnen die provozierende Frage stellt: »Warum soll die Millionärsgattin eigentlich besser gekleidet sein als die kleine Sekretärin?«
Die Frau des selbsternannten Klassenkämpfers mit seinem Lieblingsslogan »Wir überwinden die Klasse durch Güter von Klasse« nimmt an der von ihrem Mann proklamierten »Demokratisierung des Luxus« nicht teil. Sie trägt nicht Kleid »Eva« für 13,45 Mark, sondern ihr auf den zierlichen Leib geschneiderte Modelle. Sie legt sich auch keinen Webpelz um, sondern, als die finanzielle Situation es zulässt, alles, was an echten Pelzen gut, teuer und irgendwann auch verpönt ist.
Annemi ist auch in Modefragen die wichtigste Beraterin ihres Mannes. Bei den zweimal im Jahr stattfindenden Musterungen für jeden neuen Katalog, die sich über Tage und oft auch Nächte hinziehen und an denen ich in den Schulferien teilnehmen darf, ist ihr Urteil ausschlaggebend. Sie entwickelt großen Sachverstand und das richtige Gespür dafür, wie sich modische Trends dem Geschmack des Normalverbrauchers, wie der Neckermann-Kunde gerne bezeichnet wird, anpassen lassen.
Neckos unternehmerischer Überschwang ist nicht zu bremsen. Schon in seinem ersten Kundenbrief verspricht er: »Alle werden feststellen: Neckermann ist einmalig!« Von 1960 an wird Neckermann es möglich machen. Dieser geniale Werbeslogan überlebt das Unternehmen und den Firmenchef um Jahrzehnte. Noch 2004 operiert Thomas Gottschalk mit dem Namen Neckermann, wenn er die Kundschaft der Firma Karstadt, der mittlerweile das Unternehmen meines Pflegevaters gehört, in einem Fernseh-Werbespot beschwört: »Sie haben einen Traum, und ich erfülle ihn! Neckermann macht’s möglich.«
Nicht ohne Bewunderung verfolge ich die Marketingstrategien meines Pflegevaters, die, auch wenn er Experten hinzugezogen hat, immer seine persönlichen und oft spontanen Entscheidungen geblieben sind. Selbst der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger erweist ihm literarisch Ehre, als er den Neckermann-Katalog in seinem 1960 bei Suhrkamp erschienenen Band Einzelheiten als den »Bestseller des Jahres« bezeichnet. »Es ist kein Roman, sondern ein Sach- und Handbuch, das ein eingehendes Studium verlangt. Keiner seiner Benutzer stellt es ungelesen in den Bücherschrank.« In diesem Jahr lässt sich auch ein anderer deutscher Schriftsteller von Neckermann faszinieren. Carl Zuckmayer wirbt für die erste von der Firma auf den Markt gebrachte Schreibmaschine. Jeder Anschlag ein Dichter!
Für die jährlich anwachsende Produktpalette, vom Föhn bis zum Fernseher, ist die Familie oft erste Abnehmerin und kritische Testerin. Die Erweiterung des Angebots auf Elektrogeräte, Möbel, Mofas, Reisen, Versicherungen, Kundendienste und schließlich ein Fertighaus vermittelt den Eindruck, dass alle materiellen Wünsche einer deutschen Familie von Neckermann erfüllt werden können. Es ist die Vision, die in die Realität umzusetzen mein Pflegevater fest entschlossen ist. Dass er seinen Kunden das für den Normalverbraucher seit den 50er Jahren nicht mehr wegzudenkende Automobil nicht bieten kann, bleibt der kleine »Alp« in Neckos großem Traum.
Die veränderte Wohn- und Lebenssituation der Familie eröffnet auch mir neue Möglichkeiten. Ich muss in der Zentrale am Ostbahnhof nur ein paar Stockwerke tiefer in das Neckermann-Kaufhaus gehen, um all das mitzunehmen, was ich gerade brauche. Die Angestellten kennen die Neckermann-Kinder. Erst als ein neues, größeres
Weitere Kostenlose Bücher