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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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Herausgeberin.
    Als sie Clorindo Testa, dessen Persönlichkeit sie schon bald ebenso bewunderten wie sein Werk, zum ersten Mal begegneten, kam ihnen ein eleganter, drahtiger älterer Herr mit federndem Gang und verschmitztem Lächeln entgegen, dem keine Militärdiktatur, und er hatte etliche erlebt und überlebt, etwas anhaben konnte. Durch seine mutigen künstlerischen Äußerungen war er in den Augen der argentinischen Intellektuellen- und Künstlerszene ein Held. Die Machthaber dagegen belächelten seine Kunst. Die politische Aussagekraft seiner Bilder, die das Regime hinterfragten und anprangerten, nahmen sie nicht wahr. Man duldete ihn und ließ ihn gewähren.
    Doch weder die faszinierende Begegnung mit dem großen argentinischen Architekten und Künstler noch die Entfernung von Europa konnten die Frau darüber hinwegtäuschen, dass in ihrem Leben vieles in Unordnung geraten war. Sie stand wieder einmal vor den Trümmern einer gescheiterten, wenn auch noch nicht geschiedenen Ehe. Ihr dritter Mann, der trotz zunehmender gegenseitiger Entfremdung der wichtigste Mensch in ihrem Leben geblieben war, lag in Berlin im Krankenhaus, und ihr jüngster Sohn wartete am anderen Ende der Welt, in Montana, wohin er mit einem Schüleraustauschprogramm geraten war, darauf, dass sie ihn aus einer unhaltbaren Situation in seiner Gastfamilie befreite.
    Es war nicht ihre Hotelsuite, sondern die enger Freunde aus Los Angeles, die mit ihren Söhnen zur Architekturbiennale angereist waren. Die beiden Jungs, die sich von dem überraschenden morgendlichen Besuch im Schlaf gestört fühlten, zogen die Bettdecken über die Köpfe und weigerten sich hartnäckig aufzustehen. Die Mutter der Kinder stand gelassen vor dem Spiegel und tuschte ihre Wimpern mit der Präzision eines Models, als sich die Frau ein Herz fasste, tief Luft holte und unvermittelt fragte: »Könnt ihr meinen Sohn für den Rest des Schuljahres bei euch in Los Angeles aufnehmen?« Mit Tränen in den Augen ließ sie sich in einen der geblümten Sessel fallen. Jetzt war es raus. Sie war erschöpft und erleichtert. Das Haus ihrer Freunde in Santa Monica war nicht groß, aber groß genug, um zu den beiden Söhnen noch einen weiteren Jungen aufzunehmen. Dass sie dies tun würden, entschied sich endgültig, als der Ehemann, in ein Frotteetuch gehüllt aus der Dusche kommend, von seiner Frau mit den Worten überrascht wurde: »Schatz, ab morgen hast du einen dritten Sohn.« Dessen Maschine aus Montana landete an dem Tag in Los Angeles, an dem die amerikanischen Freunde aus Buenos Aires zurückgekehrt waren. Bis zum Ende des Schuljahrs lebte ihr jüngster Sohn als Teil der neuen Familie in Los Angeles. Es war eine gute Zeit.
    Ihr Weg dagegen führte sie überstürzt von Buenos Aires nach Berlin. Am Flughafen nahm sie sich ein Taxi und fuhr direkt ins Krankenhaus, um bei ihrem Mann zu sein. Er hatte sie nicht darum gebeten, das tat er nie, aber sie kam dennoch. Sein Gesundheitszustand hatte sich nach der Operation stabilisiert. Gemeinsam überlegten sie, ob sie ihren Sohn angesichts der ärztlichen Diagnose nach Berlin zurückholen sollten. Ihr Mann war dagegen, und sie stimmte ihm schließlich zu. Mit dem Wunsch, den Jungen zumindest über die Krankheit seines Vaters zu informieren, setzte sie sich durch. Sie hatten die richtigen Entscheidungen getroffen.
    Das Fluchttempo der Frau, was ihre Beziehungen betraf, hatte sich zwar im Laufe der Jahre verlangsamt, ihr zweifach praktizierter Vier-Jahres-Ehe-Rhythmus war längst durchbrochen, doch aufzuhalten war sie nicht. Sie hatte um den Erhalt dieser Ehe gekämpft, obwohl sie es war, die die Beziehung zerrüttet hatte. Die Eheleute hatten wegen ihres gemeinsamen Sohnes und allem, was sie noch miteinander verband und sich nicht wie der gordische Knoten mit einem Hieb durchschlagen ließ, Formen des Zusammenlebens ausprobiert, an denen vor ihnen schon andere Paare gescheitert waren: das getrennte Leben im gemeinsamen Haus. Er nahm die schwierige Situation hin. Seine ruhige, abwartende Haltung kam ihm dabei zugute. Vielleicht hoffte er, dass diese Phase vorübergehen würde, denn auch er hatte sich innerlich noch nicht von ihr gelöst. Das kam erst später.
    Es gab keinen Zweifel, sie hatte sich in den vergangenen gemeinsamen Jahren verändert, doch ihr Mann konnte diese Tatsache nicht als einen Prozess werten, der ihn einschloss. Dass Leben fortdauernde Veränderung bedeutete, nicht nur der äußeren Umstände, sondern auch der eigenen

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