Wie ein Haus aus Karten
Person, entsprach ihrer tiefen Überzeugung. Ihr Mann dagegen war und blieb der Beständige und er glaubte an Beständigkeit. Damit verband er Treue zu sich selbst, den gemeinsamen Anfängen und dem Partner. Es war wie beim Fingerhakeln auf bayerischen Volksfesten, bei dem der eine den anderen mit dem Finger über den Tisch zu sich hinüberzuziehen versucht und es trotz größter Anstrengung keinem von beiden gelingt. Als sie spürte, dass daraus ein Kampf gegen sich selbst wurde, gab sie auf. Wieder war sie die Aktive. Sie hatte bereits den ersten Schritt aus dieser Beziehung getan.
Sechster Ort
Am Ostbahnhof
Ich habe in meiner Geschichte versucht, die wichtigsten Menschen meiner Kindheit und Jugend, auch wenn sie in unterschiedlicher Präsenz und Intensität an verschiedenen Stationen meines Lebens wieder auftauchen, bestimmten Orten zuzuschreiben. Was die Zuordnung meiner Pflegemutter, deren Einfluss noch bis in mein viertes Lebensjahrzehnt übermächtig ist, in dieses Schema betrifft, so habe ich mich für unsere Wohnung am Ostbahnhof entschieden, wohin die Familie Neckermann zieht, als sie Oberursel verlässt, um in Frankfurt ein neues Leben zu beginnen.
Obwohl ich Annemi zeit ihres Lebens Mutti nenne und meine Bindung zu ihr in ihrer Komplexität, Widersprüchlichkeit und Emotionalität einer echten Mutter-Tochter-Beziehung gleichkommt, ist sie im Laufe meiner Auseinandersetzung mit ihr zur Pflegemutter geworden, und so nenne ich sie darum auch in meinen Aufzeichnungen. Die Erinnerung an sie habe ich in meinem Kopf über Jahre und Jahrzehnte um und um gewendet wie verfärbte Wäsche in einem Bottich, aber gut gebügelt, gefaltet und gestapelt liegt sie noch immer nicht vor mir.
Unser »Ostbahnhof« ist natürlich nicht der Bahnhof im Osten der Stadt Frankfurt am Main. Der liegt hundert Meter weit entfernt. Unser »Ostbahnhof« ist der neue Firmensitz, von dem aus mein Pflegevater zu seiner bemerkenswerten Nachkriegskarriere durchstartet und in dessen beiden obersten Stockwerken sich unsere Wohnung befindet. Zunächst ist allerdings ein Hindernis zu überwinden. Der Magistrat der Stadt meldet Bedenken an, weil Josef Neckermann vorbestraft ist. Doch der damalige SPD -Oberbürgermeister Dr. Walter Kolb, der zu Recht »der Dicke« genannt wird, setzt sich über alle Einwände hinweg. Josef Neckermann erhält das sechseinhalbtausend Quadratmeter große Grundstück für neunundneunzig Jahre auf Erbpacht. Der jährliche Pachtzins beträgt eine Mark pro Quadratmeter.
Am 11. Juni 1951 wird die Neckermann-Firmenzentrale in Frankfurt eröffnet. Bei der feierlichen Einweihung, bei der die ganze Familie anwesend ist, liest der Oberbürgermeister ein Glückwunschtelegramm des Bundesministers für Wirtschaft, Professor Dr. Ludwig Erhard, vor, der mit dem deutschen Wirtschaftswunder ebenso wie mit seinen Helden unauflöslich verbunden ist. Mein gleichaltriger Stiefbruder Johannes, in kurzen Hosen und rutschenden Kniestrümpfen, unterstreicht mit der ihm zugedachten offiziellen Schlüsselübergabe, dass es sich hier um ein echtes Familienunternehmen handelt. Im Laufe seines Lebens gehören solche und ähnliche Auftritte ebenso wie Reden zu Taufen, Hochzeiten und runden Geburtstagen, manchmal im Duett mit seinem großen Bruder Peter, zum Kürprogramm meines Stiefbruders. Er verkörpert damit ein Erziehungsprinzip Neckos, dass nur Männer in der Öffentlichkeit aufzutreten haben und demzufolge nur die Söhne der Familie im häuslichen Kreis durch kleine Reden auf ihre spätere Aufgabe vorbereitet werden sollen. Mädchen, davon ist mein Pflegevater leider auch überzeugt, sind davon ausgenommen.
Das erste Foto der Großfamilie Neckermann am Ostbahnhof ist in Neckos neuem Büro aufgenommen. Er selbst sitzt hinter einem massiven dunklen Holzschreibtisch. Der stammt noch aus der Berliner Tannenbergallee aus dem Besitz von Karl Amson Joel. Joel soll daran, wie Necko in seinen Erinnerungen schreibt, noch seinen letzten Katalog gestaltet haben, ehe er Firma und Villa an den aufstrebenden Jungunternehmer abtreten muss. Nun ist die blankpolierte Arbeitsplatte auf der einen Seite mit Blumen und einer silbernen Zigarettendose mit Kordelrand dekoriert, auf der anderen stapeln sich Akten, und in der Mitte liegt ein aufgeschlagener Ordner, so als hätte der Fotograf den Firmenchef mitten aus der Arbeit gerissen. An der Wand im Hintergrund ist ein alter Stich der Weltkarte zu sehen. Ich, die Jüngste, sitze verlegen grinsend und so
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