Wie ein Haus aus Karten
Neckermann-Kaufhaus an der Zeil im Zentrum Frankfurts eröffnet wird, müssen wir, da uns dort nicht mehr jeder Mitarbeiter kennt, die Mitnahme der ausgesuchten Waren mit einer Unterschrift bestätigen. Als ich als Teenager eine Vorliebe für die zugekauften, teureren Kleider entwickle, die das günstige Katalogangebot ergänzen, und stolz ein weißes, ärmelloses Kleid mit glänzenden schwarzen Knöpfen für 99 Mark nach Hause bringe, beschließt Annemi, die bis dahin unbegrenzten Einkaufsmöglichkeiten durch ein begrenztes Taschengeld zu ersetzen. Ich bekomme monatlich hundert Mark. Kleider sind darin nicht eingeschlossen, die sucht meine Pflegemutter in Zukunft zusammen mit mir aus.
Inzwischen ist Annemi die Frau an der Seite eines erfolgreichen Geschäftsmannes. Die Rollen sind klar verteilt. Necko leitet das Familienunternehmen, seine Frau das Unternehmen Familie, und beide tun es mit der gleichen erfolgsorientierten Professionalität. Ami, wie sie von Freunden genannt wird, ist die ideale Besetzung für diese Rolle. Sie lernt gesundheitliche Beeinträchtigungen, die, wie ihre damals noch regelmäßig auftretenden Asthmaanfälle, nicht in dieses Bild passen, unter Zuhilfenahme eines Inhaliergeräts mit sich abzumachen.
Doch im Allgemeinen ist meine Pflegemutter voller Energie. Sie blüht nach den schweren Zeiten in Oberursel regelrecht auf. In den ersten Jahren am Ostbahnhof beginnt sie wieder zu singen, so wie sie es als junges Mädchen auf dem Konservatorium getan hat. Sie hat eine klare Altstimme, die bei der Einweihungsparty, die Annemi und Necko in ihrem neuen Zuhause geben, und später bei anderen festlichen Gelegenheiten immer wieder zum Einsatz kommt. Necko läuft zu Höchstform auf, wenn er auf der Steinmauer des Blumenerkers stehend und Bongorasseln schwingend das Eilmann Trio antreibt, das an diesem Abend zum ersten Mal eine Neckermann-Feier beswingt und von da an über Jahrzehnte zum Unterhaltungsprogramm vieler Familienfeste gehört. Die fast kindliche Ausgelassenheit meines Pflegevaters bei solchen Anlässen ist ansteckend für die Anwesenden und überraschend für uns Kinder. So kennen wir ihn nur von Erzählungen aus seiner Jugend.
Wenn sich Annemi nach wiederholter allgemeiner und einstimmiger Aufforderung bereit erklärt, einige ihrer Lieblingsschlager zum Besten zu geben, ist der Höhepunkt des Abends erreicht. Das Repertoire ist nicht groß, aber wir Kinder lieben es und die Gäste auch. Es beginnt mit einem Schlager aus den 50er Jahren, der nicht nur ihre, sondern auch die Stimmung der anwesenden Gäste wiedergibt: »Heut ist ein Feiertag für mich/und alle Leute freuen sich/heut könnt mein Herz vor lauter Glück zerspringen, zerspringen.« Dabei breitet Annemi strahlend und unbeschwert wie ein junges Mädchen im Takt der Musik die Arme aus. Ihre musikalischen Darbietungen enden an solchen Abenden mit dem Lieblingslied meiner Pflegeeltern, das zum letzten Mal bei Neckos Totenfeier gespielt wird: »Wenn der weiße Flieder wieder blüüüht/küss ich deine roten Lippen müüüd/wie im Land der Märchen/sind wir dann ein Pärchen/und ich spür den Duft von weiiiißem Flieder.« Die häuslichen Feste dieser Zeit sind gute Momente für die Familie, selbst wenn die Jüngsten, Johannes und ich, ihnen zunächst nur von der Treppe zum Kinderstockwerk aus folgen können, wo wir, am oberen Treppenabsatz liegend, aufpassen, dass uns nichts entgeht und uns niemand entdeckt.
Die Kommunionsfeier meines Stiefbruders Johannes ist auch einer dieser guten Momente. An die Zeremonie in der Kirche kann ich mich nicht mehr erinnern, wohl aber an die mit Luftballons und Luftschlangen dekorierten Kirmesbuden, die zur Feier des Tages und zur Unterhaltung der Gäste im Firmenhof aufgestellt sind. Der dort untergebrachte, in den kommenden Jahren ständig anwachsende Fuhrpark wird an diesem Tag um Mofas erweitert, auf denen Erwachsene und Kinder auf einer im Hof vorgezeichneten Bahn um den Sieg fahren. Ich habe Angst mitzumachen und verfolge das Spektakel vom Rand der »Rennbahn« aus. Ein solches Fest habe ich noch nie zuvor erlebt.
Da ich bei Johannes’ Kommunion noch nicht am Ostbahnhof wohne, bin ich wie zu allen Neckermann-Familienfeiern mit meiner Großmutter aus Würzburg angereist. Neugierig betrachte ich an diesem Tag die vielen Kinderzimmer im fünften Stock, auch das für mich bestimmte. Es hat bunte Tapeten und weiße Möbel und sieht einladend aus. Dennoch hat die Vorstellung, allein in einem Raum
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