Wie ein Haus aus Karten
nicht!« Vor allem nicht für Necko, für den sie gerade in diesen ersten Jahren am Ostbahnhof rund um die Uhr verfügbar sein muss. Es wird ihr viel Verantwortung übertragen, der sie sich nicht entzieht, und sie bürdet sich zusätzliche auf. Vielleicht ist das die Rolle, die sie sich in ihrer Lebensplanung, zu der ein erfolgreicher Mann und eine große Familie gehören, zugedacht hat und der sie mit Passion und Präzision nachkommt. Sie erfüllt alle Erwartungen, die eigenen und die der anderen: Sie ist liebe- und verständnisvolle Ehefrau, Beraterin, souveräne Gastgeberin, elegante Begleiterin, Reitgefährtin und zu alledem Mutter von sieben Kindern, und sie möchte eine gute Mutter sein. Bei den eigenen Kindern tut sie alles, was in ihren Kräften steht, bei den drei hinzugekommenen Töchtern ihres Schwagers und ihrer Schwägerin noch mehr. Sie bemüht sich, die Lang-Geschwister zu verstehen, die, dessen ist sie sich bewusst, bisher in einer ihr fremden Welt mit anderen Werten und Normen aufgewachsen sind.
Als Vater ist Necko in den Jahren am Ostbahnhof kaum vorhanden, weder für die eigenen noch für die angenommenen Kinder. Nur manchmal wird er in der Erziehungsstrategie seiner Frau als strafende Instanz eingesetzt. Ich sehe meinen Pflegevater noch heute vor mir, wie er, die Reitpeitsche in der Hand, in Reithosen und wie mit Sieben-Meilen-Stiefeln hinter dem damals dreizehnjährigen Johannes durch die Wohnung rennt, da dessen Zeugnis nicht zu seiner Zufriedenheit ausgefallen ist. Als er seinen Jüngsten in großen Sprüngen mit seinen dünnen, langen Beinen in Reitstiefeln verfolgt, sieht er aus wie das leibhaftige hölzerne Bengele, auch wenn den Beteiligten in diesem Augenblick nicht zum Lachen zumute ist.
Obwohl Necko, von solchen pädagogischen Zwischenfällen abgesehen, als aktives Familienoberhaupt kaum in Erscheinung tritt, tut das seiner starken Wirkung auf uns Geschwister keinen Abbruch. Im Gegenteil. Die häufige Abwesenheit des in Gegenwart der Kinder wortkargen und gelegentlich cholerischen Vaters und Pflegevaters macht ihn in unseren Augen zu etwas Besonderem. Und Besonderes soll man bekanntlich nur in Maßen genießen. Als wir klein sind, sprechen wir lieber über ihn als mit ihm, zumal er uns, ganz in seiner Berufswelt verhaftet, ohnedies kaum wahrnimmt. Alle Geschichten, die sich um seine Person ranken, kennzeichnen ihn eher als unternehmerischen Tausendsassa denn als liebevollen Familienvater.
Doch zu einem erfolgreichen Geschäftsmann gehört eine große Familie. An Sonntagen, wenn wir uns pünktlich um zehn Uhr zum Frühstück um den langen Esstisch versammeln, ausgenommen die Wochenenden, an denen sich die Familie in die sportlichen Turniergänger und den unsportlichen Rest aufteilt, kommt es vor, dass mein Pflegevater in die Runde blickt und staunt, wie viele es sind. Neben den Familiengeschichten, über die nicht gesprochen wird, und die sind in der Mehrzahl, gibt es auch solche, die gern erzählt werden. Zu Letzteren gehört die Geschichte von einem Sonntagsfrühstück, bei dem mein Pflegevater, wohlwollend seine Familie betrachtend, ein unbekanntes Gesicht entdeckt. Als er Annemi fragt, wer denn der junge Mann am Kopfende sei, sagt diese: »Necko, das ist dein neuer Pflegesohn Wolfram.«
Meine Pflegemutter hat sich ein hohes Ziel gesetzt. Sie will vollkommen werden. Ihr Streben nach Vollkommenheit hat mich als Kind und noch als junge Frau sehr beschäftigt, und ihr Bekenntnis, obwohl sie es weder pathetisch noch lautstark vorgebracht hat, hinterlässt bei mir einen nachhaltigen Eindruck. Vollkommenheit ist in ihren Augen nur durch das Erdulden und Überwinden von Leid und Schmerz zu erreichen. Instinktiv ist mir schon als Kind bewusst, dass es Vollkommenheit unter Menschen nicht geben kann, dass sie nur in Märchen und in biblischen Geschichten vorkommt. Vor allem aber hat Vollkommenheit für mich nichts Verlockendes. Sie bedeutet Stillstand, Endgültigkeit, Langeweile. Vollkommen, das fühle ich, will ich nicht werden.
Der Lebensspruch meiner Pflegemutter »Was uns nicht tötet, macht uns härter«, der nichts von dem durch omnipotenten Optimismus geprägten Motto ihres Mannes »Wo ein Wille, da ein Weg« hat, unterstreicht ihre Haltung. Sie hat mich oft mit diesem Spruch zu trösten versucht, aber ich kann nichts Tröstliches darin entdecken. Ich kann auch nicht verstehen, warum Härte etwas Erstrebenswertes sein soll.
In einem Gedichtband für die Neckermann-Kunden, der
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