Wie ein Haus aus Karten
Gebete und Sinnsprüche aus der Feder meiner Pflegemutter enthält, schreibt sie: »Nicht ein breiter Weg, nur ein steinern Steg führt zu Gott.« Sie muss es so empfunden haben. Annemi hat im Laufe ihres Lebens vieles mit großer Disziplin hingenommen, ihre eigenen Träume zurückgestellt. Amis Freundin Dr. Rose Theis geht noch Jahrzehnte später in ihrer Rede zu Annemis siebzigsten Geburtstag am 11. Februar 1985 auf diese Haltung ein. Man solle dankbar sein für alles Schwere, das man im Leben überwinden muss. »Nur ein Stein, der geschliffen wird, hat die Chance, ein Edelstein zu werden.« Annemi möchte ein Edelstein sein. Ein Edelstein aber ist hart. Auf dem als steinig empfundenen Weg, den meine Pflegemutter gegangen ist, ist auch sie allmählich versteinert. Es ist ein langandauernder, schmerzhafter Eingriff in ihre Seele. Ein Betäubungsmittel hat sie nie genommen.
Nicht nur für uns Kinder, sondern auch für die Menschen ihrer näheren Umgebung ist Annemi indes Vorbild und moralische Instanz zugleich. Ihr Erziehungsmotto, das sie mit zwei Worten umschreibt, lautet denn auch: »Liebe und Vorbild«. Das Problem ist nur, dass man ihr Vorbild nicht in Frage stellen darf und man sich die Liebe, ihre Liebe, verdienen muss.
Es dauert lange, bis ich mich von der pflegemütterlichen Werteskala löse und meine eigene finde. Zunächst jedoch mache ich ihre Maßstäbe zu den meinen. So ist Stolz wunschgemäß auch für mich eine Tugend, und Annemi wiederum ist stolz auf mich, als ich dem treuesten Freund meiner Kindheit und Jugend verbiete, jemals wieder Kontakt mit mir aufzunehmen. Mein Freund Rudi hat mir bei einem Besuch meiner Großmutter in Würzburg auf offener Straße eine so heftige Ohrfeige gegeben, dass alle fünf Finger auf meiner Wange brennen und mein beigefarbener Filzhut, den mir meine Pflegemutter für die Reise nach Würzburg gekauft hat, in hohem Bogen vom Kopf fliegt und in einer Pfütze landet. Die Ohrfeige stellt, wie mich Annemi später aufklärt, eine unverzeihliche Missachtung meiner Würde als Mensch und Frau dar. Erschwerend kommt für sie hinzu, dass sich das Ganze in der Öffentlichkeit abgespielt hat.
Der ungeliebte und zudem übel zugerichtete Filzhut mit der kleinen Krempe, den ich nach dem Pfützenfall endlich entsorgen kann, ist das Produkt der Neckermann’schen Modestrategie, nach der es zwischen einer Zwanzigjährigen und einer Fünfzigjährigen keinen Unterschied mehr gibt. Etwas Wahres ist daran. Ich bin siebzehn und fühle mich mit Hut wie siebzig.
Der Grund für die Ohrfeige: Ich habe meinen mir seit meiner Kindheit ergebenen Freund mutwillig verletzt. Ich verabrede mich mit ihm, dem inzwischen hoffnungslos in mich Verliebten, um ihm, als er mich abholen will, mitzuteilen, dass ich doch lieber mit seinem Freund ausgehe, in den wiederum ich verliebt hin. Rudi steht fassungslos vor mir, atmet tief durch, und ich sehe noch, wie sich seine Nasenflügel blähen, da spüre ich auch schon seinen kräftigen Schlag auf meinem Gesicht. Tränenüberströmt, weniger vor Schmerz als vor Wut, laufe ich zu meiner Großmutter, die zu meiner Empörung kein Mitleid mit mir hat. Sie schmunzelt nur und meint fast anerkennend: »Das hätte ich Rudi gar nicht zugetraut.« Ich fühle, dass sie recht hat. Zugeben kann ich es nicht.
Dass ich meiner Pflegemutter die Geschichte von der Ohrfeige unter Auslassung wesentlicher, mich belastender Details erzähle, hat einen Grund. Ich will ihre Solidarität, und ich bekomme sie. Der Preis ist hoch. Ich muss ihr versprechen, meinen Freund Rudi nie wiederzusehen und seine Briefe ungeöffnet zurückzuschicken. Endlich gibt es etwas, das meine Pflegemutter und mich verbindet: unser Stolz. Was ich ihr nicht erzähle, ist, dass ich alle Briefe, die mir Rudi nach diesem Zwischenfall ein Jahr lang ins Internat schreibt, unter Wasserdampf öffne, lese, wieder verschließe und an ihn zurückschicke. Ich sage ihr später auch nicht, dass mein Jugendfreund schon bald entdeckt, dass seine Briefe geöffnet wurden, und darum munter weiterschreibt.
Trotz eines allmählich aufkeimenden undefinierbaren Unbehagens und ersten Zweifeln bleibt meine Pflegemutter noch über viele Jahre meine moralische Instanz. Als ich sie einmal in einem Brief frage, was ich in einer bestimmten Situation, an die ich mich heute nicht mehr erinnern kann, tun soll, antwortet sie umgehend. Sie schreibt: »Denke immer, ich stehe neben Dir, und dann frage Dich, wie würde Mutti in dieser Situation
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