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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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ohne meine Großmutter einschlafen zu müssen, nichts Verlockendes für mich. Es ist gut, dass ich nicht weiß, wie bald ich hier einziehen werde.
    Was mich an der Kommunion am meisten beeindruckt, ist der Protagonist selbst. Ich staune über die fröhliche Selbstsicherheit meines Stiefbruders. Er wirkt auf mich mit seinen artig zur Seite gekämmten hellbraunen Haaren und einem von Sommersprossen übersäten, pausbackigen Gesicht wie eine lustige Mischung aus frommer Helene und Huckleberry Finn.
    In späteren Jahren wird das Gesicht meines Stiefbruders länger, die Nase auch, die Sommersprossen verblassen, und die Haare erheben sich zu einer pomadeglänzenden Tolle. Auch seine Autos machen im Laufe der Zeit eine bemerkenswerte Wandlung durch. Auf das Tretauto der Kinderzeit, einen amerikanischen Jeep mit Stern auf der Kühlerhaube und das Mofa der Kommunionsfeier folgen während der Schulzeit ein VW Käfer mit frisiertem Motor und nach dem Abitur ein Jaguar. Die zur Kommunion unfreiwillig getragene Haarklammer ersetzt er nun freiwillig durch ein schweres Goldarmband, in das seine Initialen eingraviert sind.
    Johannes ist Annemis Nesthäkchen, und selbst wenn meine Pflegemutter darauf besteht, ihre Vorstellung von Gerechtigkeit hätte nichts anderes zugelassen, dass sie allen Kindern die gleiche Liebe entgegenbringt, so ist die zu ihrem Sohn Johannes sicher die langmütigste. Später hüllt sie auch seine Eskapaden in Bezug auf die Damenwelt in einen Mantel des Schweigens, den keines der übrigen Familienmitglieder zu lüften wagt. Und noch etwas zeichnet sich schon früh bei Johannes ab: Er ist und bleibt ein Verkaufstalent. Was er bei den Kaufladenspielen der Kindheit bereits unter Beweis gestellt hat, überträgt er im Laufe seines Lebens auf alles, was er an den Mann bzw. die Frau bringen will: Antiquitäten, alte Gemälde, alte Weine und nicht zuletzt seine Argumente. Man nimmt ihm alles ab. Seine Mutter vor allem Letztere.
    In den Jahren am Ostbahnhof ist Ami ein lebensfroher und gelegentlich sogar spontaner Mensch. Ich sehe sie vor mir, wie sie, um einen Springparcours für ein Reitturnier einzuüben, kurz vor dem Schlafengehen im großen Wohnraum die einzelnen Hindernisse mit Sofakissen nachstellt und in ihrem Shorty, einem Schlafanzug mit kurzen Hosen und vielen Rüschen, über sie hinwegspringt, um sich die Route besser einzuprägen.
    Zu einer Zeit, als das Reiten noch nicht die gesamte Wochenendplanung bestimmt, fährt Annemi mit uns Kindern im Sommer im ersten eigenen Auto, einem gebrauchten Opel Kadett, zum Hattsteinweiher zum Schwimmen. Sechs Kinder haben sich ins Auto gepfercht. Das sind mindestens drei zu viel. Wird ein Verkehrspolizist gesichtet, tauchen abwechselnd drei von uns nach einem festgelegten Schema mit den Köpfen unter und erst wieder auf, wenn die Gefahr vorüber ist. Wenn wir dann alle schreiend und uns gegenseitig bespritzend in den Hattsteinweiher rennen, kann niemand die Mutter von den ältesten Töchtern unterscheiden.
    Das ist der Mensch, den ich fest entschlossen bin zu lieben, der mir ein neues Zuhause geben soll. Dass ich es zu brauchen glaube, kurz nachdem ich von meiner Großmutter getrennt werde, ist nachvollziehbar, aber vermutlich bin ich zu absolut, und das, was ich wortlos einfordere, ist einfach zu viel. Ich bin nicht die Einzige, die emotionale Ansprüche an Annemi stellt.
    Ich finde eine Collage, die ich 1955 für meine Pflegemutter zu Weihnachten gemacht habe und aus der deutlich wird, wie ich mir meinen Platz innerhalb der Familie vorstelle, auch wenn mir das damals sicher nicht bewusst ist. Das Bild zeigt fast alle Familienmitglieder. Die Köpfe sind aus Fotos ausgeschnitten, die Körper habe ich gemalt. In der Mitte des Bildes steht Necko, rechts davon Annemi in einem blauen, schwingenden Kleid, daneben meine Schwester Juli. Links neben meinen Pflegevater habe ich Uschi platziert, daneben mich, dargestellt in einem roten Ballettkleid mit weißer Bordüre und auf Zehenspitzen stehend. Bemerkenswert ist, dass nicht die eigenen, sondern die Pflegekinder die neuen Eltern umrahmen. Erst kommen wir, dann die Neckermann-Kinder Evi und Peter, schließlich in deutlichem Abstand meine Stiefschwester Sigrid, die Richtung Bildrand schaut. Johannes habe ich ganz vergessen.
    Der achtmal wiederkehrende Refrain eines Gedichts zu einem runden Geburtstag meiner Pflegemutter beschreibt ihre Rolle innerhalb der Familie liebevoll ironisch und wahrheitsgemäß: »Ohne Ami geht es

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