Wie ein reißender Strom: Roman (German Edition)
diese Frau zur Ehe?«, fragte der Priester.
»Ihre Mutter und ich.«
Ross blickte auf Banners Gesicht nieder. Seine grünen Augen waren verhangen. Er drückte ihre Hand, dann ließ er sie in Gradys gleiten. Danach gesellte er sich zu Lydia in der vordersten Bank.
Banner hörte das Rascheln der Menge, als alle sich wieder hinsetzten. Sie blickte ihrem Bräutigam ins Gesicht und wusste, dass keine Frau auf der Welt je glücklicher war als sie in diesem Augenblick. Grady war der Mann, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte. Sie würden einander lieben, so wie Mama und Papa es taten. Sie würde ihn jeden Tag seines Lebens glücklich machen, ganz gleich, was es kostete. Sie war sich Gradys Liebe genauso gewiss, als er sie jetzt anblickte.
Der Priester begann mit der Zeremonie. Die poetischen Worte nahmen für Banner eine ganz neue Bedeutung an. Ja, dieser Satz drückte genau aus, was sie für …
Peng!
Der Lärm erschütterte die feierliche Stille in der Kirche. Der Widerhall dröhnte um Banner wie scharfe Glasscherben.
Schreie.
Aus der Versammlung erscholl hastiges Gemurmel.
Banners Kopf fuhr herum.
Grady war gegen sie gesunken.
Auf seinem dunklen Hochzeitsanzug prangte rot eine klaffende Wunde.
2
»Grady!«
Unter seinem herabsinkenden Körper war Banner zusammengebrochen. Er fiel auf sie. Sie kämpfte sich hoch, sodass sie saß, und barg seinen Kopf in ihrem Schoß. Automatisch löste sie ihm Krawatte und Kragen. Kleine Schluckaufgeräusche schieren Entsetzens entrangen sich ihrer Kehle. Seine Augen standen offen und hatten vom Schock einen ganz glasigen Blick. Vergeblich bewegte er seine Lippen, kein Wort kam heraus.
Aber er lebte noch. Banner wimmerte Dankgebete, während sie die Wunde mit ihren bloßen Händen bedeckte, um den Blutstrom zu stoppen.
All dies war im Bruchteil einer Sekunde geschehen. Jake zog seine Pistole und wirbelte zu dem Mann herum, der draußen vor dem nächstgelegenen Kirchenfenster stand. Mit einer Pistole zielte er auf die Apsis der Kirche.
»Die Braut ist als Nächste dran.« Die Warnung wurde mit heiserer, feindseliger Stimme hervorgestoßen. Eine ruckartige Bewegung mit der Pistole in Richtung Altar verlieh dieser Drohung Nachdruck.
Nicht nur Jake, sondern auch die Arbeiter von River Bend, die der Hochzeit beiwohnten, hatten ihre Pistolen gezogen. Die Waffen waren alle auf den Mann im Fenster gerichtet. Verängstigte Frauen beugten sich vor, um den Kopf im Schoß zu bergen, und hielten die Arme zum Schutz über sich. Männer kauerten zwischen den Bänken und schützten die Kinder vor einer Gefahr, die bis jetzt noch nicht einschätzbar war.
»Lasst alle Waffen fallen«, schrie der Mann wie ein Verrückter.
»Ross?«, fragte Jake.
»Tu was er sagt.« Beim ersten Schussgeräusch hatte Ross sich instinktiv geduckt und nach seinem Colt gegriffen, musste aber feststellen, dass er nicht da war. Wer hätte denn gedacht, dass er bei der Hochzeit seiner Tochter seine Waffe brauchte? Er fluchte heftig in sich hinein.
Voller Bedauern warf Jake seine Pistole auf den Boden. Die Arbeiter von River Bend machten es ihm nach. Erst dann schwang der Mann an dem hohen Kirchenfenster ein Bein über den niedrigen Fenstersims und betrat die Kirche. Er zerrte eine junge Frau hinter sich her und schob sie dann mit der Hand in ihrem Rücken vor sich her.
»Ich bin Doggie Burns, und das ist Wanda, meine liebe Tochter.«
Die beiden brauchte man eigentlich nicht vorzustellen. Doggie Burns brannte den besten Schnaps in Osttexas. Er hatte Kunden, die von weither anreisten, um einen Vorrat von seinem Schwarzgebrannten nach West-Virginia-Rezept aufzukaufen. Aber nur wenige widmeten dem Mann mehr Zeit, als unbedingt nötig war, um das Geschäft abzuwickeln. Er war schlau, verschlagen, gefährlich, regelrecht gemein, und jeder, der je von ihm gehört hatte, wusste das.
Er und seine Tochter starrten vor Dreck. Wandas mattes braunes Haar hing ihr glatt und fettig auf die Schultern. Auf den Unterarmen von Doggies Hemd bildeten Generationen von Schweißflecken Jahresringe. Ihre Kleidung war zerrissen und ungeschickt geflickt. Sie entweihten das Gotteshaus, das für diese Gelegenheit so feierlich geschmückt war. Wie ein Makel an einem ansonsten vollkommenen Diamanten konnten alle nur auf sie starren; die Schönheit rund um sie her wurde völlig ausgelöscht.
»Sosehr ich es auch hasse, die Zeremonie zu stören«, meinte Burns sarkastisch und zog vor Lydia den Hut, bevor er ihn wieder auf
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