Wie ein Ruf in der Stille: Roman (German Edition)
völlig im Dunkeln. Seine Frau ist das absolute Tabuthema, wenn wir uns unterhalten.«
»Hmm«, meinte John gedehnt. »Schon merkwürdig, dass ein intelligenter, selbstbewusster Mann wie Drake dem Tod seiner Frau so lange nachhängt.«
Lauri seufzte tief. »Ich verstehe es auch nicht, John. Aber so ist es nun einmal. Daran habe ich keinen Zweifel.«
Sie und Jennifer brachen kurze Zeit später auf. Im Nachhinein fand sie es richtig befreiend, dass sie sich John anvertraut hatte. Ihre depressive Stimmung war wie weggewischt, und sie fühlte sich wieder gefasster.
An der Tür legte er mitfühlend einen Arm um ihre Schultern. »Lauri, wenn ich irgendetwas für Sie tun kann, zögern Sie nicht, sagen Sie es mir, ja? Ich weiß, wie weh es tut, wenn die Psyche leidet. Bisweilen hilft es schon eine ganze Menge, wenn man sich mit jemandem ausspricht.«
Bestimmt hatte John irgendwann in seinem Leben Ähnliches erlebt. Davon war Lauri fest überzeugt. Nahm er deshalb so viel Rücksicht auf die Befindlichkeiten seiner Mitmenschen? Und war ein so verständnisvoller Zuhörer? Wusste er aus eigener, schmerzvoller Erfahrung, dass eine gekränkte Seele zu extremen Reaktionen neigte?
Drei Wochen nach ihrem Besuch bei John traf sie der erste Schneesturm mit geballter Kraft. Trotz der alltäglichen Routine und Monotonie fand Lauri sich zusehends mit der angespannten Situation ab. Sie ruhte wieder mehr in sich selbst. Setzte verschiedene Methoden der Sprecherziehung bei Jennifer ein und klopfte sich mental auf die Schulter, da die Kleine erkennbare Fortschritte machte.
Schon am Nachmittag vor dem Schneesturm fegte der Wind bedrohlich heulend ums Haus. Sie saßen vor dem Spiegel im Unterrichtsraum und übten den Klang des Buchstaben P. Lauri hielt einen Wattebausch in der Hand und demonstrierte dem Kind, wie er wegflog, wenn sie den
Laut korrekt aussprach. Jennifer imitierte ihre Mundbewegungen und strahlte vor Stolz, als ihr die Artikulation gelang.
Lauri bat sie, weiter mit dem Wattebällchen zu üben. Sie selbst ging in den Wohnraum, von woher sie ein undefinierbares Geräusch gehört hatte. Sobald sie das riesige Panoramafenster erreichte, schob sie die schweren Vorhänge beiseite und spähte nach draußen in die dichte Wand aus aufwirbelndem Schnee. Ihr Herz machte einen Freudenhopser, als sie unvermittelt Drake entdeckte. Er stieg eben aus einem allradgetriebenen Jeep und duckte sich gegen den eisigen Sturm, während er die glitschigen Stufen zum Haus hinaufstapfte.
Er hob die Hand, wollte klingeln, aber Lauri war schneller. Sie rannte zur Tür und riss sie sperrangelweit auf, um ihn ins Haus zu lassen. Bevor er sie jedoch begrüßte, strubbelte er sich den Schnee aus den Haaren und schälte sich aus dem fellgefütterten Mantel.
»Lauri«, rief er.
Sie wollte seinen Namen artikulieren, brachte aber keinen Ton heraus.
»Wie geht es dir?«, erkundigte er sich.
»G… gut«, stammelte sie. Sie schüttelte den Kopf, als müsste sie ihre Gedanken ordnen, und sagte mit mehr Nachdruck: »Mir … uns geht es gut. Wir kommen sehr gut miteinander klar.« Sie würde sich eher die Zunge abbeißen, als ihn zu fragen, warum er nach Whispers gekommen war. Diese Szene hatten sie doch schon einmal durchgespielt.
»Wo ist Jennifer?«, fragte er.
»Im Unterrichtsraum. Wir haben den Stundenplan etwas
geändert, nachdem du …« Sie stockte. »Er ist jetzt besser auf die Bedürfnisse des Kindes abgestimmt«, erklärte sie.
Statt einer Antwort drehte er sich zum Klassenraum und schob sich durch die Tür. Daraufhin vernahm Lauri Jennifers begeisterten Jubel.
Drake stand mitten im Zimmer und hatte Jennifer auf dem Arm. Das Kind umklammerte seinen Nacken und hatte die Beinchen um seinen Brustkorb geschlungen. Er stützte mit den Händen ihren Po ab. Bunny, der sie seit seiner Abreise quasi auf Schritt und Tritt begleitete, lag vernachlässigt neben ihrem Stuhl.
Sie lehnte sich zurück und strahlte ihren Vater an. »Jen-fa, Jen-fa«, rief sie, während sie mit der Hand auf ihren schmächtigen Brustkorb patschte. »Dau-dy, Dau-dy!« Sie drückte ihn erneut.
»Oh, Schätzchen, das ist ja fantastisch«, lobte er. Aber das hörte sie nicht, sie las es in seinen Augen. Er spähte zu Lauri, die unentschlossen in der Tür stand, und grinste breit. »Das ist fabelhaft, Lauri. Sie macht doch Fortschritte, oder?« Schon war er wieder der fürsorglich-ängstliche Vater, der ihr im Russian Tea Room gegenübergesessen hatte, und sie versicherte
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