Wie ein Ruf in der Stille: Roman (German Edition)
tiefsten Oklahoma. Indes wirkte das ehrwürdige Gebäude mit seinen knarrenden Holzdielen und den hellen, stuckverzierten Fluren beschaulich-anheimelnd auf die Studenten.
Dozent Grant Chapman stand vor seinen Studenten, die Arme locker auf ein Pult gestützt. Aus massiver Eiche gefertigt, waren die Zeichen der Zeit scheinbar spurlos an dem Möbel vorübergegangen.
Genau wie an diesem Mann, sinnierte Shelley. Mr. Chapman wirkte sportlich trainiert wie vor zehn Jahren. So manches
Mädchenherz hatte damals höher geschlagen, wenn er mit dem Schulteam der Poshman Valley Highschool gegen gegnerische Basketballmannschaften angetreten war. Nur mit Sportshorts und T-Shirt bekleidet, hatte Grant Chapman den Schülerinnen glatt den Atem genommen. Auch Shelley Browning. Zehn Jahre später und der athletische, junge Lehrer hatte sich in einen dynamischen, distinguierten Dozenten verwandelt.
Silberne Fäden durchzogen das dunkle Haar, das er noch genauso leger frisiert trug wie damals. Lange Haare waren an der Poshman Valley High zwar verpönt gewesen, aber als junger, fortschrittlicher Pädagoge hatte er sich über diese eherne Regel locker hinweggesetzt.
Shelley konnte sich noch lebhaft daran erinnern, als sie das erste Mal von Grant Chapman gehört hatte.
»Shelley, Shelley, der neue Geschichtslehrer sieht einfach umwerfend aus!«, hatte ihre Freundin sie aufgeregt begrüßt. Das war einen Tag nach den Sommerferien gewesen. »Wir bekommen ihn im zweiten Halbjahr. Er sieht wirklich spitzenmäßig aus! Und er hat Ahnung! Endlich mal ein junger Typ, da geht der Geschichtsunterricht bestimmt voll ab!«, hatte das Mädchen geschwärmt. Dann war sie zu den anderen gelaufen, um ihnen von diesem Glückstreffer zu berichten. »Oh, und er heißt Chapman, Grant Chapman«, hatte sie Shelley noch über die Schulter hinweg zugerufen.
Soeben ging er auf den Einwurf einer Studentin ein. Shelley registrierte weder die Frage noch seine tiefschürfende Antwort. Sie konzentrierte sich ganz auf seine sonore, wohlklingende
Stimme. Dicht über ihr Schreibpult gebeugt, schloss sie unwillkürlich die Augen und erinnerte sich spontan wieder daran, wann sie den sanft akzentuierten Tonfall das erste Mal gehört hatte.
»Browning, Shelley? Sind Sie anwesend?«
Ihr Herzschlag hatte für Sekundenbruchteile ausgesetzt. Keiner mochte es, wenn er gleich am ersten Schultag nach den Ferien aufgerufen wurde. Schlagartig waren zwanzig neugierige Augenpaare auf sie geheftet. Mit leicht fahriger Hand hatte sie aufgezeigt. »Ja, Sir.«
»Miss Browning, Sie haben wohl versehentlich Ihre Gymnastikhose liegen lassen. Sie wurde im Umkleideraum gefunden. Miss Virgil hat sie an sich genommen.«
Die Klasse war in hämisches Johlen und Pfeifen ausgebrochen. Mit flammend roten Wangen hatte sie sich stammelnd bei dem neuen Lehrer bedankt. Daraufhin hielt er sie bestimmt für eine dämliche Kuh. Komisch, aber seine Meinung war ihr wichtiger gewesen als die ihrer Mitschülerinnen.
Als sie an jenem Tag aus der Klasse gespurtet war, hatte er sie an der Tür beiseitegenommen. »Das mit vorhin tut mir leid. Es war bestimmt nicht meine Absicht, Sie vor der Klasse bloßzustellen«, hatte er sich entschuldigt. Ihre Freundinnen standen neidisch dabei und bekamen große Augen.
»Das macht doch nichts«, hatte Shelley nur matt geantwortet.
»Oh doch. Als Wiedergutmachung bekommen Sie von mir fünf Bonuspunkte in der ersten Klassenarbeit, versprochen.«
Sie hatte die fünf Extrapunkte nie bekommen, weil sie bei Klausuren ohnehin fast immer die volle Punktzahl erreichte. Und Geschichte war in jenem Halbjahr ihr absolutes Lieblingsfach.
»Meinen Sie die Zeit vor dem Vietnamkrieg oder danach?« , hakte Mr. Chapman eben bei der Studentin nach, die sich nach der öffentlichen Einflussnahme auf die Entscheidungen der Regierung erkundigt hatte.
Kurz entschlossen lenkte Shelley ihre Gedanken wieder auf die Gegenwart. Wetten, er erinnerte sich nicht mehr an »Browning, Shelley« und ihre verschlampte Gymnastikhose? Inzwischen hatte er vermutlich längst verdrängt, dass er knapp vier Monate lang Lehrer an der Poshman Valley Highschool gewesen war. Nach allem, was er durchgemacht hatte! Sentimentalität konnte man sich nämlich nicht leisten, wenn man die Karriereleiter zum Kongressmitglied und Senatsberater hinaufkletterte. Und einen öffentlichen Skandal locker wegsteckte. Immerhin hatte man Grant Chapman ein paar unangenehme Dinge vorgeworfen, die vor Jahren in einer
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