Wie ein Ruf in der Stille: Roman (German Edition)
ländlichen Kleinstadt passiert sein sollen und die sein facettenreiches Leben überschatteten.
Dass er sich für sie kaum verändert hatte, hing vielleicht auch damit zusammen, dass sie ihn zigmal im Fernsehen erlebt hatte. Von Journalisten und Reportern belagert, hatte er Stellung zu dem Skandal nehmen müssen, der ganz Washington tief erschütterte. Sein Foto war ihr von den Titelseiten der Zeitungen förmlich ins Auge gesprungen. Die Schnappschüsse waren wenig schmeichelhaft gewesen –
trotzdem hatte sich sein Gesicht unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt.
Shelley war sich fast sicher, dass er sie nicht wiedererkannte. Mit sechzehn war sie nämlich eine dürre Bohnenstange gewesen. Inzwischen wirkte ihre schlanke Silhouette femininer, weicher und weiblich proportioniert. Ihre Gesichtszüge hatten sich verändert. Statt kindlicher Pausbacken betonten hohe Wangenknochen ihre rauchblauen Augen.
Die langen Ponyfransen, die ihr als Schulmädchen kess in die Stirn wippten, waren längst passé. Mittlerweile kämmte sie die Haare streng zurück, so dass sie ihre schön geschwungenen Brauen und den herzförmigen Haaransatz betonten. Von Natur aus brünett, umschmeichelte die dichte, dunkel schimmernde Mähne ihre Schultern wie flüssiges Kupfer.
Das fröhliche Cheerleader-Girl war Schnee von gestern. Vorbei war die Zeit der Unschuld, des Idealismus. Die Frau, die dort in dem Seminarraum saß, war sich des Unrechts in der Welt und deren Unzulänglichkeiten vollkommen bewusst. Genau wie Grant Chapman. Sie hatten sich beide verändert, waren andere als vor zehn Jahren. Und Shelley fragte sich zum vielleicht hundertsten Mal, warum sie sich ausgerechnet für sein Seminar eingeschrieben hatte.
»Berücksichtigen Sie bitte die damalige Position Präsident Johnsons«, gab er gerade zu bedenken.
Shelley warf einen verstohlenen Blick auf ihre Armbanduhr. Das Seminar dauerte nur noch eine Viertelstunde, und
sie hatte sich gerade einmal zwei Zeilen notiert. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie mit Bausch und Bogen durch die Prüfung rasseln und das Grundstudium nicht schaffen. Dabei hatte sie im ersten Semester in Staatsbürgerkunde mit Auszeichnung bestanden.
Sie erinnerte sich an einen kalten, windigen Tag in jenem längst vergangenen Herbst.
»Hätten Sie nicht Lust, mir an ein paar Nachmittagen pro Woche bei den Unterrichtsvorbereitungen zu assistieren?«, hatte er sie gefragt.
Sie trug den Windblouson ihres damals aktuellen Boyfriends und hatte die Fäuste in den tiefen Jackentaschen vergraben. Mr. Chapman hatte sie auf dem Schulhof zwischen Sporthalle und Unterrichtsgebäude angesprochen. Seine für die Schulordnung zu langen Haare umwehten wild seinen Kopf. Nur mit einem Trainingsanzug bekleidet, stemmte er sich gegen den beißenden Nordwind.
»Natürlich, wenn Sie nicht wollen, sagen Sie es mir ruhig …«
»Nein, nein«, stammelte sie hastig und befeuchtete sich die spröden Lippen. »Das heißt, ja. Also, ich würde das gern machen. Wenn Sie meinen, dass ich das packe.«
»Sie sind meine beste Schülerin. Ihre Klausur über das Rechtssystem war herausragend.«
»Danke.« Sie errötete. Mist, und wieso hatte sie aus heiterem Himmel rasendes Herzklopfen? Er war doch nur ein Lehrer. Sicher, aber nicht irgendein Lehrer.
»Wenn Sie die allgemeinen Fragenkomplexe in den Tests
durchgehen, lese ich die Ausarbeitungen. Das spart mir abends eine Menge Zeit.«
Schlagartig hatte sich ihr die Frage aufgedrängt, was er abends denn wohl machte. Traf er sich mit einer Frau, hatte er eine feste Freundin? Darüber hatten die Mädchen schon auf etlichen Schlafpartys spekuliert. Allerdings hatte Shelley ihn in der Stadt noch nie mit jemandem zusammen gesehen.
Einmal abends, als sie mit ihrer Familie im Wagonwheel Steakhouse zum Essen gewesen war, hatte er dort gesessen. Allein. Er hatte ihr höflich zugenickt, und sie wäre am liebsten gestorben. Was blieb ihr anderes übrig, als ihm mit hochrotem Kopf ihre Eltern vorzustellen? Daraufhin war er aufgestanden, um ihrem Vater freundlich die Hand zu schütteln. Nachdem sie einen Tisch zugewiesen bekommen hatten, musste ihr kleiner Bruder zu allem Überfluss auch noch sein Glas Milch umschütten. Dafür hätte sie ihn umbringen können! Als sie einen verstohlenen Blick zu Mr. Chapman riskierte, war sein Platz leer.
»Okay. An welchen Tagen?«
Er blinzelte in das trotz der Kälte helle Sonnenlicht. Sie wusste nicht so recht, ob seine Augen nun grau oder grün oder
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